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Erschienen in: Standort 1/2023

Open Access 19.01.2023 | Angewandte Geographie

Nebenströme der Agrar- und Ernährungswirtschaft – vom Abfallprodukt zur wertvollen Ressource!?

verfasst von: Dr. Oliver Klein, Dr. Stefan Nier, Prof. Dr. Christine Tamásy

Erschienen in: Standort | Ausgabe 1/2023

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Zusammenfassung

Die Nutzung von organischen Abfällen und Nebenströmen ist ein wichtiger Baustein für die Transformation zu einem nachhaltige(re)n Agrar- und Ernährungssystem. Die damit einhergehenden Kreislaufsysteme werden in der Literatur unter dem Begriff der Circular Bioeconomy diskutiert. Der Beitrag greift diese Diskussionen auf und liefert empirische Befunde aus der Raps- und Zuckerrübenproduktion, wo große Mengen an Nebenströmen speziell auf der Verarbeitungsstufe anfallen (z. B. Presskuchen, Extraktionsschrot, Rübenschnitzel, Melasse). Für diese organischen Stoffe haben sich unterschiedliche Verwertungspfade etabliert, sodass sie mittlerweile ein wichtiges Element der betrieblichen Wertschöpfung darstellen. Die Verwertung geschieht in beiden Bereichen durch intersektorale Vernetzungen, die sich je nach Wertschöpfungspotenzial und Lager‑/Transportfähigkeit der Biomasse über verschiedene Raumebenen erstrecken (lokal/regional, national, international). Ebenso spielen unternehmerische Merkmale wie auch der institutionelle Kontext eine Rolle bei der Nebenstromverwertung.

Einleitung

Der Transformationsprozess von einer fossil- zu einer biobasierten Wirtschaft erfordert neuartige Wertschöpfungsprozesse, die aus einer systemischen Perspektive zu betrachten sind. Dabei spielen die effiziente Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen sowie das Schließen von Stoffkreisläufen eine wichtige Rolle, um einen nachhaltigeren Entwicklungspfad einzuschlagen. Solche zirkulären Systeme werden speziell für die Agrar- und Ernährungswirtschaft diskutiert, zumal dieser Bereich durch eine intensive Nutzung von natürlichen Ressourcen gekennzeichnet ist und gleichzeitig enorme Mengen an Reststoff- und Abfallströmen produziert. So schätzt die FAO (2011), dass ca. 30–40 % der global produzierten Lebensmittel zwischen Ernte und Endverbrauch verloren gehen oder entsorgt werden, was einer Biomasse von ca. 1,3 Mrd. Tonnen entspricht. Allein diese Zahlen verdeutlichen die Notwendigkeit einer kreislauforientierten Nahrungsmittelproduktion.
Der vorliegende Beitrag greift diese Thematik auf und rekonstruiert verschiedene Wertschöpfungspfade von pflanzlichen Nebenströmen, die aus der Raps- und Zuckerrübenverarbeitung resultieren. Dabei werden unternehmerische Merkmale, räumliche Verflechtungen und institutionelle Kontexte betrachtet, womit der Beitrag an gegenwärtige Diskussionen um Circular Bioeconomies und Geographies of (Food) Waste anknüpft. Während Lebensmittelabfälle auf der Stufe des Endverbrauchs bereits Gegenstand sozialwissenschaftlicher bzw. humangeographischer Forschung sind (z. B. Evans 2014; Welch et al. 2018), stehen Rest- und Abfallstoffe auf den vorgelagerten Stufen – hier als Nebenströme bezeichnet – bislang weniger im Fokus. Jedoch sind auch diese Mengen nicht unerheblich, wie eine Studie des Thünen-Instituts aufzeigt (Schmidt et al. 2019; Abb. 1). Ein besonders großes Nebenstromaufkommen kennzeichnet die Raps- und Zuckerrübenverarbeitung, sodass die Unternehmen nach alternativen Verwertungsmöglichkeiten für die ungenutzte Biomasse suchen. Wie so entstandenen Systeme funktionieren und welche Kontextbedingungen von Bedeutung sind, wird nachfolgend genauer analysiert.
Die empirischen Ergebnisse resultieren aus einem Verbundprojekt im Rahmen des Programms „Niedersächsisches Vorab: Wissenschaft für Nachhaltige Entwicklung“. Beteiligt waren die Universitäten Vechta, Hannover und Göttingen, die Hochschule Osnabrück und das Deutsche Institut für Lebensmitteltechnik (DIL) e. V. in Quakenbrück. In methodischer Hinsicht basiert der Beitrag auf einer Kombination aus Primär- und Sekundäranalysen. Einerseits wurden 24 leitfadengestützte Experteninterviews mit Repräsentanten der Raps- und Zuckerrübenproduktion in Niedersachsen geführt (13 im Raps-, 11 im Zuckerrübenbereich). Dazu zählen jeweils Landwirtschaftsbetriebe, Verarbeitungsunternehmen und Fachverbände. Die Interviews haben zwischen November 2017 und April 2019 in den Räumlichkeiten der Experten stattgefunden; sie wurden – bis auf fünf Ausnahmen – aufgezeichnet, transkribiert bzw. protokolliert und inhaltsanalytisch ausgewertet. Darüber hinaus fließen weitere Materialien (z. B. Unternehmenswebsites, Branchenberichte, Statistiken) in die Untersuchung ein.

Kreislaufsysteme in der Agrar- und Ernährungswirtschaft

In der Agrar- und Ernährungswirtschaft ist die Nutzung organischer Nebenströme von zunehmender Bedeutung, zumal sie einen nicht unerheblichen Beitrag zur Wertschöpfung von Unternehmen leisten können. Welche Nutzungen sich am Ende durchsetzen, wird nicht allein durch technische oder ökonomische Parameter bestimmt, sondern auch durch institutionelle Aspekte, Standortbedingungen und lokale Netzwerke (Klein et al. 2022).
Bislang werden Nebenströme der Agrar- und Ernährungswirtschaft zumeist aus einer lebensmitteltechnologischen oder -chemischen Perspektive betrachtet, wo es z. B. um die verfahrenstechnische Machbarkeit verschiedener Nutzungsoptionen geht (z. B. Ersoy und Berger 2021, Lynch et al. 2018). Einen umfangreicheren Ansatz verfolgen Klitkou et al. (2019), die verschiedene Fallstudien zur Verwertung von organischen Rest- und Abfallstoffen kompilieren. Aus einer wirtschaftsgeographischen Perspektive zeigen Klein et al. (2022) am Beispiel der Kartoffel- und Rapsverarbeitung, wie verschiedene Verwertungspfade von Nebenströmen einerseits durch lokale Institutionen und Netzwerke (Kartoffeln) und andererseits durch Entwicklungen im (inter)nationalen Marktumfeld (Raps) beeinflusst werden. Eine sechsstufige Typologie zur Verwertung agrarischer Rest- und Abfallstoffe entwickeln Donner et al. (2020), wobei einschlägige Betriebsmodelle zumeist auf trans- und intersektoralen Partnerschaften beruhen. Daran anknüpfend untersuchen Donner und de Vries (2021) die Rolle von organisationalen Innovationen für die Implementierung ebensolcher Modelle.
Eine kritischere Perspektive nimmt Mourad (2016) ein, indem sie für präventive Maßnahmen zur Reduzierung von Rest- und Abfallstoffen plädiert und diesbezüglich Konzepte einer „starken“ und „schwachen“ Nachhaltigkeit ins Spiel bringt. Während die Position der schwachen Nachhaltigkeit davon ausgeht, dass Wachstum und nachhaltige Entwicklung miteinander vereinbar sind und natürliche Ressourcen substituiert werden können, zielen Vertreter/innen der starken Nachhaltigkeit auf die dauerhafte Erhaltung natürlicher Ressourcen, die folglich als nicht substituierbar gelten (z. B. Rogall 2012). Beide Konzepte sind auch in der sogenannten Food Waste Hierarchy impliziert, die in der Studie von Mourad (2016) als konzeptioneller Rahmen dient. Demnach ist die Prävention von Abfällen und Nebenströmen im Lebensmittelbereich im Sinne einer starken Nachhaltigkeit zu bevorzugen, während verschiedene Verwertungsoptionen (z. B. Recycling) erst nachrangig in Betracht kommen sollten.
Dieser kleine Überblick über den Stand der Forschung offenbart, dass ganzheitliche Analysen zur Nutzung organischer Nebenströme bislang zu wenig stattfinden. Der aufkeimende Diskurs um Geographies of (Food) Waste hat hier durchaus Potenzial, nur zielt er bislang eher auf die verbrauchernahen Wertschöpfungsstufen. Jedoch wird langsam erkannt, dass auch die vorgelagerten Bereiche in erheblichem Maße zu Lebensmittelabfällen und -verlusten beitragen. Ein aktuelles Forschungsprojekt des Thünen-Instituts identifiziert entsprechende „inter-stage drivers of food loss“ im Obst- und Gemüsebereich, wobei die Marktmacht von Lebensmitteleinzelhändlern und deren fragwürdiges Lieferkettenmanagement als ein zentrales Problem gesehen werden (Herzberg et al. 2022). Weiterer Forschungsbedarf wird u. a. mit Blick auf Machtverhältnisse und Kooperationsmechanismen zwischen einzelnen Wertschöpfungsstufen gesehen.

Verwertung von Nebenströmen am Beispiel der Raps- und Zuckerrübenverarbeitung

Die Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Bereiche Raps (Abb. 2) und Zuckerrüben (Abb. 3), deren Anbau und Verarbeitung vor allem in Süd- und Ostniedersachsen eine wichtige Rolle spielen (LSN 2016). Im Hinblick auf kreislauforientierte Wirtschaftsformen sind die betrachteten Nutzpflanzen insofern relevant, da sie jeweils große Mengen an Nebenströmen produzieren, die bei der Herstellung von Rapsöl bzw. Zucker anfallen. Bei der Rapsverarbeitung sind dies je nach Verarbeitungsprozess entweder Presskuchen oder Extraktionsschrot. Bei der Zuckerrübenverarbeitung zählen Rübenschnitzel und Melasse zu den wichtigsten Nebenströmen (Abb. 4).

Nebenströme der Rapsverarbeitung: Lukrative Vermarktung als GVO-freies Futtermittel

Durch die Verarbeitung von Raps wird Rapsöl hergestellt, welches für die menschliche Ernährung oder als Kraftstoff (Beimischung für Bio-Diesel) dienen kann. Je nachdem, ob das Öl aus der Pflanze extrahiert oder gepresst wird, entstehen entweder Extraktionsschrot oder Presskuchen. Diese Nebenströme sind gemessen an der insgesamt produzierten Biomasse sogar größer als der eigentliche Hauptstrom; sie machen rund zwei Drittel des Produktionsvolumens aus. Insofern stehen die Ölmühlen vor der Herausforderung, diese Biomasse sinnvoll zu verwerten, zumal etwaige Entsorgungskosten angesichts der großen Mengen kaum zu bewältigen wären.
Im Zuge der Erhebungen wurden drei der sechs niedersächsischen Ölmühlen interviewt, die ihre Nebenströme – in diesem Fall ausschließlich Presskuchen (Abb. 5) – jeweils als Futtermittel für die Milchkuhhaltung vermarkten. Daneben ist auch eine Verwertung in Biogasanlagen möglich, jedoch ist dieser Weg nicht sonderlich attraktiv, da für den Anteil des eingesetzten Presskuchens lediglich die Grundvergütung gewährt wird. Insofern ist der Einsatz als Futtermittel die einzig sinnvolle Option, welche die Ölmühlen bereits seit Jahren nutzen. Allerdings sind die Preise für den Presskuchen aufgrund einer steigenden Nachfrage aus dem Milchkuhbereich zuletzt stark angestiegen, sodass diese Form der Nebenstromverwertung aus betriebswirtschaftlicher Sicht immer lukrativer wird. Begünstigt wird dies zudem durch steigende Sojapreise und den Bedarf an GVO-freien Milchprodukten, sodass viele Landwirte mittlerweile auf sojabasierte Futtermittel verzichten.
„Weil der Sojapreis jetzt rasant steigt, haben viele Landwirte ein Problem und suchen nach alternativen günstigen Eiweißquellen. Neben vielleicht Bohnen und Erbsen ist das Raps. …. Den Bereich der Eiweißversorgung im Milchkuhbereich decke ich stark ab. Ich sage mal, 80% des Presskuchens gehen an Milchviehbetriebe, und zwar im ganzen Bundesgebiet. Und das sind meistens Betriebe, die sehr groß sind – 200–550 Kühe …. Die restlichen 20% gehen in die Kraftfutterindustrie“ (Interview Ölmühle).
Diese Aussage zeigt, dass die Distributionswege bei der Nebenstromverwertung sehr großräumig sein können. So befindet sich ein Teil der belieferten Milchkuhbetriebe im Alpenvorland und vereinzelt sogar in Österreich. Es ist zu fragen, inwieweit die damit verbundenen langen Transportwege dem Prinzip einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft entsprechen. Allerdings gibt es auch lokale Verbindungen, wie das Beispiel einer anderen (kleineren) Ölmühle verdeutlicht:
„Natürlich will man so effizient und ressourcenschonend wie möglich arbeiten. Und die Verwertung des Presskuchens mit dem Verkauf hier in der direkten Umgebung ist natürlich ideal, weil der [Landwirt] hier direkt mit dem Trecker vorbeikommt und ich lade das auf und fertig. … Für eine Ölmühle ist das ein hochwertiger Rohstoff. Und umso größer die Mengen werden, die man verarbeitet, umso bedeutsamer wird auch der Presskuchen. … Und den wegzuschmeißen, das wäre fatal“ (Interview Ölmühle).
In diesem Fall ist ein Milchbauer aus dem Nachbarort der einzige Abnehmer für den Presskuchen. Diese Zusammenarbeit kam eher zufällig zustande („Wir sind ins Gespräch gekommen und dann hat sich das so entwickelt“) und ist bis heute mit wenig Aufwand für beide Seiten verbunden. Dennoch ist zu konstatieren, dass auch diese Beziehung durch ein sich wandelndes Makroumfeld geprägt ist, da der Landwirt erst aufgrund von Marktverwerfungen im Sojabereich nach einer Alternative gesucht hat. Trotz der mittlerweile ebenfalls gestiegenen Preise für den Presskuchen ist dies immer noch die günstigere Variante für eine proteinreiche (und GVO-freie) Fütterung von Milchkühen. Ein weiterer Einflussfaktor auf der Makroebene ist die sukzessive Besteuerung von Biodiesel ab 2006. In der Folge mussten zahlreiche Ölmühlen den Betrieb einstellen, weil dieser Wertschöpfungspfad nicht mehr rentabel war. Das dadurch bedingte knappere Angebot an Rapsnebenströmen bei gleichzeitig steigender Nachfrage hat deren Preisanstieg maßgeblich beeinflusst. Der Bedeutungswandel des Presskuchens vom Reststoff zur Ressource wird durch das folgende Zitat abschließend illustriert:
„Für den Rapspresskuchen haben wir in der Anfangszeit 10€ [je Kubikmeter] bekommen, heute sind es 24€. Das große Problem ist heute nicht die Vermarktung des Presskuchens, sondern des Öls“ (Interview Ölmühle).

Nebenströme der Zuckerrübenverarbeitung: Vielfältige Einsatzmöglichkeiten und Innovationspotenziale

Die Verarbeitung von Zuckerrüben ist in Deutschland stark konzentriert. So gibt es bundesweit lediglich vier Unternehmen, die sich den nationalen Zuckermarkt aufteilen: Nordzucker, Pfeifer & Langen, Südzucker sowie Cosun Beet – ein niederländisches Unternehmen, welches im Jahr 2009 die Zuckerfabrik Anklam in Mecklenburg-Vorpommern übernommen hat. In Niedersachsen befinden sich vier Standorte für die Verarbeitung von Zuckerrüben, die allesamt zur Nordzucker AG gehören. Die Zulieferbasis dieses Konzerns besteht aus rund 6000 Zuckerrübenbauern, die sich über ganz Norddeutschland verteilen (DNZ 2019).
Wie bereits erwähnt, sind Rübenschnitzel und Melasse die Hauptnebenströme der Zuckerherstellung. Rübenschnitzel sind kleine Streifen, die bei der maschinellen Zerkleinerung der Rüben anfallen (Abb. 6). Durch Extraktions‑, Press- und Trocknungsverfahren entstehen verschiedene Trockenschnitzelprodukte, die als Direktfutter (insbesondere für Wiederkäuer) oder Mischfutterkomponenten verwertet werden. Der Absatz von Pressschnitzeln erfolgt in lokalen Märkten rund um die Unternehmensstandorte, während Trockenschnitzelpellets aufgrund ihrer besseren Lager- und Transportfähigkeit deutschlandweit sowie international vermarktet werden (Nordzucker 2022). Ähnlich wie beim Rapspresskuchen hängt auch die Nachfrage nach Zuckerrübenschnitzeln von der Preisentwicklung bei anderen Futtermitteln ab (z. B. Soja). Bei der Melasse handelt es sich um eine dunkelbraune sirupartige Flüssigkeit, die nach dem Auskristallisieren des Zuckers aus dem Zuckersaft übrigbleibt (BLE 2020). Dieser Nebenstrom dient vorrangig als Substrat für Fermentationsprozesse mit verschiedenen Zielprodukten, wie z. B. Hefe und Hefeextrakt, Enzyme, Arzneimittel, Ethanol oder organische Säuren. Ebenso ist die Melasse aufgrund des Süßgeschmack, des hohen Energiegehalts und der guten Verdaulichkeit „eine beliebte Zutat für die Futtermittelproduktion speziell im Rinder- und Milchkuhbereich, wo wir auch am Markt aktiv sind“ (Interview Zuckerfabrik).
Insofern ergeben sich aus den Nebenströmen der Zuckerrübenverarbeitung verschiedene Wertschöpfungspfade, die teilweise mit intensiven F&E-Aktivitäten verbunden sind. Sowohl Rübenschnitzel als auch Melasse werden entweder direkt oder über spezialisierte Intermediäre vermarktet, wobei ausdifferenzierte Distributionsnetzwerke mit lokalen, nationalen und internationalen Märkten entstehen. Mit Blick auf die Nebenstromnutzung als Futtermittel bietet das regionale Umfeld in Niedersachsen aufgrund der umfangreichen Nutztierhaltung günstige Voraussetzungen. Grundsätzlich kommt der Nordzucker AG zugute, dass es sich um ein multinationales Unternehmen mit ca. 3800 Mitarbeitern und mehr als 20 Standorten in acht Ländern handelt (Nordzucker 2022), sodass sich ganze Unternehmenseinheiten mit der Verwertung von Nebenströmen beschäftigen können. Demnach sind weitere Innovations- und Wertschöpfungspotenziale vorhanden, „die sich gut mit dem Thema Nachhaltigkeit vereinbaren lassen, wie z.B. Bio-Rübenschnitzel“ (Interview Zuckerfabrik). Nach Aussage eines weiteren Interviewpartners sind die Nebenströme „immer schon eine wichtige Umsatzquelle für die Zuckerindustrie … und kreislauforientiertes Denken ist eigentlich per se Teil der Unternehmenskultur“ (Interview Zuckerrübenverband). Dieses Zitat verdeutlicht den ökonomischen Stellenwert der Nebenströme, die erheblich zur Diversifizierung der Zuckerindustrie beitragen.

Fazit und Ausblick

Im Rahmen des Beitrags wurden verschiedene Wertschöpfungspfade zur Nutzung pflanzlicher Nebenströme skizzenhaft rekonstruiert. Am Beispiel der Raps- und Zuckerrübenverarbeitung konnte gezeigt werden, dass organische Rest- und Abfallstoffe mittlerweile wichtige Ressourcen darstellen, die in erheblichem Maße zur Wertschöpfung der verarbeitenden Unternehmen beitragen. Angesichts des schwierigen Marktumfelds für Rapsöl bei gleichzeitigem Attraktivitätsgewinn des Presskuchens stellt sich hier sogar die Frage, ob die strikte Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenstrom noch gerechtfertigt ist. Die Verwertung geschieht in beiden Fallbeispielen durch intersektorale Vernetzungen (insbesondere mit den Bereichen Nutztierhaltung, Futtermittel, Food Ingredients, Pharmazie), die sich je nach Wertschöpfungspotenzial und Lager‑/Transportfähigkeit der Biomasse über verschiedene Raumebenen erstrecken (lokal/regional, national, international). Speziell in der Milchkuhhaltung spielen sowohl Raps- wie auch Zuckerrübennebenströme als Alternative zu sojabasierten Futterkomponenten eine zunehmend wichtige Rolle, was durch preisliche Verwerfungen am Sojamarkt begünstigt wird. Zudem hängt die Implementierung kreislauforientierter Wirtschaftsformen unmittelbar mit den Unternehmensgrößen und -strukturen zusammen. So verfügt ein multinationales Unternehmen wie Nordzucker mit regionaler Monopolstellung in Norddeutschland über sehr viel größere Möglichkeiten zur Erforschung, Aufbereitung und Distribution der Nebenströme als die meist familiengeführten dezentralen Ölmühlen, deren Verwertungspraktiken mitunter auf informellen Arrangements im lokalen Umfeld beruhen.
Mit Blick auf die ökologische Nachhaltigkeit ist kritisch zu fragen, inwieweit die präsentierten Beispiele, die z. T. Transportwege von mehreren hundert Kilometern umfassen, tatsächlich den Idealen einer Kreislaufwirtschaft entsprechen. Zwar erscheinen innerbetriebliche Kreisläufe in der Raps- und Zuckerrübenverarbeitung nur schwer umsetzbar, doch ließen sich zumindest vermehrt lokale Netzwerke installieren, da sowohl Niedersachsen wie auch die angrenzenden Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt eine hohe Dichte an möglichen „Zielmärkten“ für die Nebenströme aufweisen. Hier könnten onlinebasierte Plattformen oder spezifische Veranstaltungen zielführend sein, um (potenzielle) Anbieter und Abnehmer von Nebenströmen auf lokaler Ebene besser zu vernetzen. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass die sinnvollste Lösung – im Sinne der „starken“ Nachhaltigkeit – in der Reduktion von Nebenströmen liegt. Nur dann lassen sich negative Externalitäten, wie z. B. Energie- oder Wasserverbräuche, vermeiden oder zumindest auf ein Minimum beschränken. Jedoch ist hierfür – neben der technologischen Machbarkeit – ein Perspektivwechsel erforderlich, der suffizienzbasiertes und postwachstumsorientiertes Wirtschaften in den Fokus rückt. Hier bieten sich spannende Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungsarbeiten.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Nebenströme der Agrar- und Ernährungswirtschaft – vom Abfallprodukt zur wertvollen Ressource!?
verfasst von
Dr. Oliver Klein
Dr. Stefan Nier
Prof. Dr. Christine Tamásy
Publikationsdatum
19.01.2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Standort / Ausgabe 1/2023
Print ISSN: 0174-3635
Elektronische ISSN: 1432-220X
DOI
https://doi.org/10.1007/s00548-022-00828-9

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