Die beschleunigte Auflösung der traditionalen Ordnung vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert erzeugte in den europäischen Gesellschaften fundamentale Orientierungsprobleme, Freiräume und Unsicherheiten. Einerseits erwuchs daraus eine immense künstlerische, intellektuelle und wissenschaftliche Produktivität, die bis heute in der „Wiener Moderne“ (Schorske
1982; Kandel
2012) und im Mythos der Zwanziger Jahre mit Berlin als Gravitationszentrum nachwirkt (Plessner
1982 [1962]; Makropoulos
1991). Andererseits entstand der Resonanzboden für einfache Erklärungen der verwirrenden neuen sozialen Verhältnisse. Der Wandel wurde vor allem dort als Bruch erlebt, wo bürgerliche Revolutionen stecken geblieben waren und die Fassade vormoderner Verhältnisse sich lange gehalten hatte: im Deutschen Reich, in Österreich-Ungarn und in Russland. Insbesondere mit den politischen Umwälzungen nach 1918 gingen zwar die Fixpunkte traditioneller Orientierungen verloren, die Orientierungsbedürfnisse aber blieben.
Die Interpretationen des Wandels der sozialen Verhältnisse und dessen verheerender Folgen, darunter Arbeitslosigkeit, Inflation und Armut, folgten der Logik der Handlung und verbanden sich zu einem neuen konsistenten Weltbild, das von den sozialen Peripherien nach und nach in die gesellschaftliche Mitte vordrang: Alle Katastrophen und Schicksalsschläge der Zeit wurden als Realisation der Intention eines bösen Handlungszentrums gedacht. Der „krasse soziale Wandel“ (Clausen
1994) von damals führte zu zwei Arten von Flucht, nämlich einerseits in Rückkehrphantasien zu übersichtlichen Sozialverhältnissen, andererseits in den Verschwörungsglauben mit eschatologischen Hoffnungen auf einen „Endkampf“ mit dem vermeintlich letzten Feind. Beiden gemeinsam war der Wunsch nach Vereinfachung.
3.1 Ausstieg
Mit dem Ersten Weltkrieg begann eine Reihe von politischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen, die spätestens 1917 in den deutschen Alltag durchschlugen: auf die Blockaden des transnationalen Getreidehandels und die Engpässe in der Lebensmittelversorgung folgten die Niederlage, der Zusammenbruch der Monarchie sowie der drei Großreiche in Mittel‑, Ost- und Südosteuropa (Russisches Reich, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich) mit darauf folgenden Kriegen und Massenmigrationen, die dauernde Gefährdung der inneren Sicherheit durch politische Morde und bewaffnete Aufstände, dann die Hyperinflation und dramatische Vermögensvernichtung und schließlich die internationale Bankenkrise und Kreditklemmen für den Mittelstand (James
2022). Das Eindringen von Komplexität in den Alltag der Leute hatte schon vor Kriegsbeginn diverse Alternativbewegungen und antimoderne Weltanschauungen entstehen lassen: „Die Stoßrichtung der Weltanschauung(en) von Wandervogel und Jugendbewegung war weitgehend konservativ und vormodern, wenngleich sie von ihren Vertretern als ‚neu‘ und fortschrittlich, als Zeichen eines großen Aufbruchs empfunden wurde.“ (Soeffner
2010, S. 102)
Diese Bewegungen verband ein „Ursprünglichkeitsverlangen“ (Plessner
1982 [1962], S. 271), das Fluchtbewegungen aus den komplexen Lebensverhältnissen der Moderne antrieb (Mommsen
1985; Mogge
1985). Und da die als bedrohlich wahrgenommenen Entwicklungen des sich globalisierenden Kapitalismus mit der Großstadt assoziiert wurden, artikulierte sich ihre Kritik als Kritik am städtischen Leben. Das Großstadtleben war in den Augen vieler gleichbedeutend mit dem Verlust traditionaler Verhältnisse. Als Sehnsuchtschiffre fungierte folglich die Gemeinschaft. Es dauerten „überhaupt die gemeinschaftlichen Lebensweisen als die alleinigen realen, innerhalb der gesellschaftlichen, wenn auch verkümmernd, ja absterbend fort“ (Tönnies
1979 [1887], S. 211).
2 In der Konsequenz folgte die „Abkehr von der Großstadt“ (Janz 1985, S. 316) als dem Inbegriff von Genusssucht und Dekadenz. Hand in Hand damit gingen die Suche nach Gemeinschaft als konfliktfreier Form des Zusammenlebens und die Orientierung an einem „Höchsten“: „Die Jugendbewegung“, so Plessner, „wuchs aus dem Protest gegen die Großstadt und Degenerationsideale, gegen Versnobtheit und Müdigkeitspathos. Und der Wald allein tut es nicht. Wenn sie eine Bewegung der Erneuerung und nicht bloß der Asphaltfeindschaft sein wollte, mußte sie eine Idee haben. Ihre Idee war: Los von der Zivilisation, empor zur Gemeinschaft.“ (Plessner
1981 [1924], S. 35)
Angesichts der Orientierungsprobleme, die systemische Komplexität im Alltag schafft, wurde „Gemeinschaft“ zur Erlösungsformel: „Maßlose Erkaltung der menschlichen Beziehungen durch maschinelle, geschäftliche, politische Abstraktionen bedingt maßlosen Gegenentwurf im Ideal einer glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft. Der Rechenhaftigkeit, der brutalen Geschäftemacherei entspricht im Gegenbild die Seligkeit besinnungslosen Sichverschenkens […].“ (ebd., S. 28) Die Gemeinschaftsidee, mit der parlamentarischen Demokratie immer schon überkreuz, mündete einerseits in Esoterik und wurde andererseits autoritär okkupiert, um schließlich in NSDAP-Inszenierungen wie dem Reichsparteitag 1938 in Nürnberg zu erstarren. Der Protokollband dazu berichtet: „Die HJ läuft in das vordere freie Mittelfeld, vor die Tribüne, und jetzt laufen aus dem Hintergrund weitere 800 Hitlerjungen vor und von beiden Seiten in die freigebliebenen Räume.
Die Front ist geschlossen. Die Gemeinschaft steht wie aus einem Guß.“ (zit. nach Schmitt-Sasse
1985, S. 130, Fn. 6; Hervorh. im Orig.)
3.2 Die unterschobene Verschwörung
Die zunehmende Dominanz des Weltmarktes wurde als Monetarisierung des Alltags erlebt (Vobruba
2000, S. 15 ff.), die man den in der Zirkulationssphäre tätigen Berufsgruppen schuldhaft zurechnete, vor allem jüdischen Unternehmern und Bankiers. Das ist die Denkgrundlage, auf der sich als Reaktion auf die Globalisierungswelle im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gesellschaftliche Feindbilder entwickelten oder verstärkten: Antisemitismus und aggressiver Nationalismus (Holz
2001; Weyand
2016). Einen kräftigen Schub erfuhr das Thema Verschwörung bereits durch die international intensiv wahrgenommene Dreyfus-Affäre ab 1894 (Thalheimer
1963). Die Verschwörung gegen den jüdischen Offizier im französischen Generalstab Alfred Dreyfus bestand darin, ihm einen Beweis für eine angebliche Verschwörung gegen die französische Armee unterzuschieben. Dreyfus wurde 1894 zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt und erst nach massiven Protesten, darunter Emile Zolas offener Brief „J’accuse“, im Jahr 1906 rehabilitiert: Die jüdische Verschwörung erwies sich als Verschwörung gegen einen Juden, dem man eine jüdische Verschwörung unterzuschieben versucht hatte. (Thalheimer
1963; Wilson
2007) Die Tendenz des Verschwörungsdenkens zum Antisemitismus steigerte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts freilich intensiv.
Der zentrale Text, der das antisemitische Verschwörungsweltbild ausbuchstabierte, förderte und festigte, war bekanntlich
Die Protokolle der Weisen von Zion (Sammons
2021), der das Unbehagen am Kapitalismus, krisenbedingte Existenzängste, das Misstrauen gegenüber der Presse und judenfeindliche Stereotype kombinierte. In diesem von der zaristischen Geheimpolizei Ochrana hergestellten Pseudo-Dokument unternimmt ein fiktiver anonymer Autor im Wesentlichen Zweierlei. Zum einen werden alle Übel dieser Welt auf das geheime Wirken der Juden („Wir“) zurückgeführt. Dieses „Wir“ inszeniert und provoziert Kriege und politische Krisen (ebd., S. 42, 53), bewirkt Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit und Inflation (ebd., S. 51), schafft Armut und Not, denn „durch die Not und den aus ihr entspringendem (sic!) Neid und Haß bewegen wir die Massen und beseitigen mit ihrer Hilfe Jeden, der uns auf unserem Wege hinderlich ist.“ (ebd., S. 41) „Wir“ verfolgen unsere Pläne im Geheimen und halten die „Masse“ so lange wie erforderlich unwissend. Das ist kein Problem, denn „mit ganz wenigen Ausnahmen, die überhaupt nicht in Frage kommen, liegt die ganze Presse in unseren Händen“ (ebd., S. 53). Die „Protokolle“ erklären alles Übel in der Logik des Einfachdenkens mit den Intentionen des mächtigen Zentrums, der „Herrschaft des Geldes“ (ebd., S. 30) oder schlicht mit: „Wir“.
Die von „uns“ geplante Zukunftsgesellschaft wird nach derselben Logik entworfen. Für jedes soziale Phänomen wird eine ihm zugrundeliegende Intention angeführt: „Wir“ werden „alle diejenigen Mißstände beseitigen, die wir selbst absichtlich unter den Nichtjuden großgezogen haben“ (ebd., S. 92). Denn es ist klar: Die „Mißstände waren für uns nützlich, so lange die Nichtjuden am Ruder waren; unter unserer Herrschaft können wir sie nicht länger dulden.“ (ebd., S. 103) Aus der Logik des Einfachdenkens folgt, dass „unser Weltherrscher“ (ebd., S. 88) die Gesellschaft direkt lenken wird. Um dies dem Volk anschaulich zu machen, wird seine Volksnähe simuliert werden, er wird „Bittschriften“ entgegennehmen und „immer von einer Menge scheinbar neugieriger Männer und Frauen umgeben sein“ (ebd., S. 94). Erstens wird ein „Weltgeld“ eingeführt, und „zweitens werden wir über alles Geld der Welt verfügen“ (ebd., S. 85). Folglich wird es „unserer Regierung“ leicht fallen, „in der Person unseres zukünftigen Weltherrschers den Schein altväterlicher Sorge um das Wohl und Wehe unserer Untertanen“ (ebd.) aufrecht zu erhalten. „Ist er selbst verhindert, zu sprechen, so müssen wir umso eifriger von seiner Bedeutung, seiner unermüdlichen Arbeit, seinen Wohltaten sprechen.“ (ebd., S. 88)
Insgesamt handelt es sich um einen extrem unplausiblen, inkonsistenten und einfältigen Text. Das macht seine Verbreitung erst recht erklärungsbedürftig. Vor allem der Schock der Oktoberrevolution und ihre Folgen und die Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns 1918 steigerten die Aufnahmebereitschaft für die „Protokolle“ immens: „Sie boten“, wie Wolfgang Benz erläutert, „den von Erbitterung und Statusverlust sowie Existenzangst Geplagten einen Ausweg aus den Selbstzweifeln, in die sie die schmachvolle Lage des Vaterlandes gestürzt hatte. […] Sie waren, wenn sie der jüdischen Weltverschwörung glaubten, des Grübelns über die Ursachen der deutschen Niederlage enthoben, denn offensichtlich gab es eine geheime Macht, deren Plan stärker war als alle eigenen Anstrengungen.“ (Benz
2007, S. 71; siehe auch Sammons
2021, S. 7 ff.) Die deutschsprachige Version des Textes, die der von Jeffrey Sammons herausgegebenen kommentierten Fassung der Protokolle zugrunde liegt, erschien bis 1933 in dreiunddreißig Auflagen. 1929 hatte die NSDAP die Rechte erworben, eine reduzierte Ausgabe erreichte bis 1938 22 Auflagen (ebd., S. 21). Das antisemitische Verschwörungsweltbild wurde damit quasi zur Staatsdoktrin des Nationalsozialismus. Der zeitgenössische Versuch des sozialdemokratischen Journalisten lettisch-jüdischer Herkunft Alexander N. Rubinstein, mit seiner 1936 unter dem Pseudonym Alexander Stein (
2011 [1936]) in Prag veröffentlichten Schrift
Adolf Hitler. Schüler der „Weisen von Zion“ publizistisch dagegen zu halten, ging unter.
Alles in allem: Spätestens um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde manifest, dass das Alltagsdenken mit der zunehmenden Steigerung gesellschaftlicher Komplexität nicht Schritt halten konnte. Noch bis ins späte 18. Jahrhundert reichte der traditionale Erfahrungsschatz, um sich in der Welt zurecht zu finden. Was sich nicht einfach erklären ließ, konnte man der weltlichen Obrigkeit und Gott in die Schuhe schieben. Mit der technisch-industriellen und der marktmäßig-kapitalistischen Umwälzung der Verhältnisse ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ließ sich die Erfahrung nicht mehr abweisen, dass die alltagsrelevanten Zusammenhänge nicht nur immer weiter reichten und immer dichter wurden, sondern auch zu schwer verstehbaren und kaum verkraftbaren Ergebnissen für die eigene Lebenslage führten. Den gesamten säkularen Entwicklungsschub begleiteten darum sowohl eine pessimistische Kritik der technischen und sozialen Neuerungen, zu finden etwa sehr konzentriert bei Richard Katz (
1934)
3, als auch ein Lamento über den Verlust der „einfachen“ und „natürlichen“ Verhältnisse. Der gemeinsame Nenner dieser Diskurse ist das Einfachdenken.