In diesen drei Jahren ist der gesellschaftliche Wortschatz um eine Reihe von Humankategorien erweitert worden, die vor der Pandemie noch nicht zur Alltagssprache gehörten oder überhaupt niemandem bekannt waren, z. B. „asymptomatisch Infizierter“, „geboosterte Kontaktperson“, „symptomfreier Superspreader“. In den meisten dieser sprachlichen Kategorien sind zwei medizinische Unterscheidungen vorausgesetzt: die von Infizierten und Nicht-Infizierten (d.h. risikosoziologisch: von Gefährdern und Gefährdeten) sowie die von Geimpften und Ungeimpften. Ihr Bezugspunkt war eine neuartige virale Bedrohung der Gesundheit, die sich auf die vom Virus Affizierten übertrug. Beide Unterscheidungen haben sich in den vergangenen Jahren auf spezifische Weise entwickelt, weil sich die Verteilung der Bevölkerung auf ihre kategorialen Seiten gravierend veränderte.
3.1 Gefährder und Gefährdete
Der Infektionsstatus ist im Fall von Pandemien nicht bloß eine medizinspezifische Rollendifferenzierung wie die Unterscheidung von Gesunden und Kranken (Parsons
1951), er ist tatsächlich ein Status, also eine gesellschaftsweit wirksame Form der Humandifferenzierung, die auch alle augenscheinlich Gesunden als potenziell Kranke oder als unerkannte Überträger in den Blick nimmt. Die alltagsweltliche Relevanz des Infektionsstatus liegt darin, dass mit ihm über die Agency der Gefährdung entschieden wird, über die Frage nämlich, wer wen anzustecken droht, wer also
Gefährder und
Gefährdeter ist. Diese gesamtgesellschaftlich relevante Unterscheidung konnte allerdings nur durch die Medizin getroffen werden. Infizierte ließen sich eben nicht wie bei den meisten Formen von Humandifferenzierung auf Basis etablierter kultureller Codes erkennen (so wie etwa „Alte“, „Asiaten“ oder „Frauen“). Es brauchte das medizinische Aufspüren des Erregers, standardisierte Formen der Detektion, Laborbefunde von prekärer Verfügbarkeit und eine Infrastruktur aus Zertifikaten wie Kontrolleur:innen, um den Infektionsstatus überhaupt feststellen zu können (siehe Abschnitt 4). Die Unterscheidung war also ein Fall von Humandifferenzierung mit ubiquitärer Relevanz, aber teilsystemgebundener Unterscheidbarkeit.
Im gesellschaftlichen Alltag sorgte diese interaktive Undurchführbarkeit der relevanten Unterscheidung seit Beginn der Pandemie für ein Problem der Ununterscheidbarkeit von Gefährdern, Gefährdeten und Gefeiten (d. h. minder gefährdeten und gefährdenden): Wer ist Virusträger, wer unerkannter Überträger und wer bereits immunisiert? Da der je aktuelle Infektionsstatus nur durch Labortests zu bestimmen und zunächst nur den Getesteten selbst bekannt war, die Bedrohung jedoch unmittelbar von den Mitmenschen ausging, hatten alle gute Gründe, sich gegenseitig zu misstrauen. Die neue Normalität des pandemischen Alltags war durch eine grassierende Unsicherheit im Zuordnen von Gefahren durch und für andere Menschen geprägt. Hinzu kam, dass die Zugehörigkeit zu einem Infektionsstatus instabil und zumeist nicht mal den Körperbewohnern selbst bekannt war. Das Virus schuf laufend unerkannte Seitenwechsel von Menschen: von diffus Gefährdeten über gefährliche Befallene entweder zu Gefeiten oder zu schwer Erkrankten und Verstorbenen. Das Virus schuf also einen Unterschied von vitaler Bedeutung, bei der die Unterschiedenen irgendwann die Seiten wechseln, ohne dass sie wussten, auf welcher sie sich gerade befinden, wer also wen gefährdet.
Vor dem Hintergrund dieses Unterscheidbarkeitsproblems kam es wie schon in historisch vergangenen Pandemien zum Ausweichen auf untaugliche, aber leichter handhabbare
Behelfsunterscheidungen, mit denen man versuchte, das Problem grassierender Ungewissheit über den Infektionsstatus zu verringern. Kulturell stabile Stigmatisierungen dienten der Verortung der Ansteckungsgefahr: In der Pest des 14. Jahrhunderts machte man religiös Andere, die jüdischen „Brunnenvergifter“, als Gefährder dingfest (Thießen
2014), drei Jahrhunderte später wahlweise die protestantischen „Häretiker“ oder die Katholiken (Dinges
1995). Spätere Infektionskrankheiten wurden nachhaltig ethnisiert. Man assoziierte das Fleckfieber mit Sinti, Roma und Juden, die Tuberkulose mit chinesischen Stadtvierteln usw. (Weindling
2007). Zuerst suchte und benannte man also die (vermeintlichen) Gefährder.
Zu Beginn der Corona-Pandemie wurde das drängende Problem der Identifizierung der Gefährder zunächst auf die grobe Differenzierung von Ausländern und Inländern abgeschoben. Diese Unterscheidung ließ sich an Papieren erkennen und über Reihentestungen an Landesgrenzen vollziehen, etwa bei Urlaubsrückkehrern. Es wurden aber auch optisch einladende rassialisierende Zurechnungen vorgenommen: in den USA auf Schwarze, in Südafrika auf Weiße („white man’s disease“), in Europa auf Asiaten. In Deutschland folgten im Frühjahr 2020 aus der Verwaltungsstruktur abgeleitete Regionalstigmatisierungen von Kommunen und Landkreisen als „Risikogebiete“, etwa der „Kreis Heinsberg, das deutsche Corona-Epizentrum“ (Zeit Online
2020a). Diese Kennzeichnung implizierte weniger das Ausweisen einer Gefahrenzone für die Bewohner:innen denn eine Stigmatisierung von „Corona-Schleudern“ (Zeit Online
2020b) vor der Öffentlichkeit. Wie zuletzt China im Januar 2023 wurden ganze Länder zu „Hochinzidenzgebieten“ oder „Virusvariantengebieten“ im internationalen Reiseverkehr erklärt, aus denen die potenziell gefährlichen „Reiserückkehrer“ die Virusvarianten einschleppen.
4 Beispielhaft sei verwiesen auf die Corona-Einreiseverordnung 2021. Man kann diese
regionale Verörtlichung des Risikos und die lokale Versämtlichung von Populationen einerseits als rational-bürokratische Variante der seuchenhistorisch alten Fremdenabwehr verstehen, andererseits aber auch als schwachen und ungezielten Ersatz für eine
präzisere Verortung des Risikos in Personen durch eine Quarantänepolitik, wie sie viele asiatischer Länder betrieben. Dort wurden die entdeckten infizierten Gefährder viel konsequenter temporär isoliert, die pandemische Humandifferenzierung also in räumliche Segregationen übersetzt, als in den europäischen Demokratien.
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In Europa fand sich dagegen nur ein zunächst schwacher Versuch der Differenzierung der
Gefährdeten. Es wurden
Risikogruppen evoziert, also eine Unterscheidung nach der Wahrscheinlichkeit nahegelegt, mit der Menschen schwer erkranken können. Damit war zwar die Unsicherheit über die Gefährder nicht aufgehoben, aber die Gruppe der besonders zu Schützenden etwas konkreter gefasst. Diese Kategorie umfasste in Deutschland nach der ersten Infektionswelle im Frühjahr 2020 allerdings zunächst 40 Millionen „Ältere und Vorerkrankte“, hatte also keinerlei operative Schärfe, sondern nur einen diffusen Informationswert bei der Aufklärung über angemessenes Gesundheitsverhalten. Vor allem enthielt sie den Appell zur „De-Mobilisierung der ‚gefährdeten‘ Alten“ (Graefe et al.
2020, S. 414). Diese Unterscheidung nach Lebensalter hatte alltagsweltlich den Effekt, dass die besonders Gefährdeten ihr erkennbares Alter zugleich als Marker für Schutzbedürftigkeit trugen. Aber auch die Gefährder wurden zu diesem frühen Zeitpunkt der Pandemie weitgehend altersdifferenziert versämtlicht, etwa als „junge Menschen, die keine Symptome zeigen, mobil sind und viel reisen“ (so der SPD-Abgeordnete Lauterbach, Zeit Online
2020a).
6 Insbesondere Kinder im betreuungspflichtigen Alter sollten von den Gefährdeten ferngehalten werden (Spiegel Online
2020), was auch ihre Altersmarker zu Zeichen besonderer Gefährdung machte. Das sichtbare Alter war eine grob versämtlichende, aber sich über die gesamte Pandemie als stabil anbietende Distinktion, an der sich Menschen im Alltag orientieren konnten.
Ab dem Sommer 2020 wurde der Differenzierungs- und Identifizierungsbedarf zunehmend ins Sozialverhalten verschoben (Ellerich-Groppe et al.
2020; Cook et al.
2021), wo gemeinschaftsstiftende moralische Behelfsunterscheidungen zwischen „Verantwortungsvollen und Leichtsinnigen“, „Solidarischen und Rücksichtslosen“, „Vernünftigen und Covidioten“ aufkamen, festgemacht an der Nicht-Konformität mit gesundheitspolitisch auferlegten oder empfohlenen Verhaltensweisen.
7 Ein Schlüsselereignis war dabei das erste „Superspreader-Event“ im Februar 2020, eine „Jeckenparty, […] wo der Karneval […] zum Massenmultiplikator“ wurde (Zeit Online
2020a). Zeitlich parallel stabilisierte sich die Behelfsunterscheidung von Inländern und Ausländern in der Hybridkategorie der „Reiserückkehrer“. Die bis April 2023 täglich veröffentlichten Lageberichte des RKI verweisen darauf, dass „Wohnort und wahrscheinlicher Infektionsort nicht übereinstimmen müssen“ (RKI
2023), das Virus also als Folge von Reiselust und geselligem Sozialverhalten „eingeschleppt“ werde. Mit dieser Verschiebung hin zu entscheidungsabhängigem Verhalten entwickelte sich auch eine Moralisierung des Status des Gefährdenden, die sich mit Appellen zu solidarischem Impfen verstärkte.
3.2 Geimpfte und Ungeimpfte
Mit der Verfügbarkeit von Impfungen ab Ende 2020, während der zweiten Welle, wandelte sich das Bild. In einer Gesellschaft von Impflingen gab es eine zweite Leitunterscheidung: die von
Geimpften und
Nichtgeimpften. Es handelt sich insofern um eine von den Infektionsstatus abgeleitete Folgeunterscheidung, als gegen Krankheiten Geimpfte idealerweise weder infizierbar noch infektiös sein sollten.
8 Auch die Corona-Impfung, die für eine materielle Dissimilierung der Körper sorgte, sollte einer Infektion vorbeugen, also schneller sein als die Assoziierungsaktivität des Virus mit dem menschlichen Wirt. Halbwegs gelang das aber nur bis zum Auftauchen der Omikron-Variante Ende November 2021, die auch Geimpfte in großer Zahl infizierte. Seitdem schützte der Impfstoff die meisten Geimpften verlässlich nurmehr gegen schwere Erkrankungen und machte sie weniger infektiös (Ärzteblatt
2022a). Omikron wirkte somit abmindernd auf die kontrastive Unterscheidung von Gefährdern und Gefährdeten.
Mit der Impfung entstanden neue Humankategorien wie „Impfberechtigte, -schwänzer, -drängler und -botschafter, Zweitimpfling“ (Zeit Online
2021b), aber auch Impfskeptiker, -gegner und -verweigerer, später: Geboosterte, Immunnaive etc. Steuernd für diese Verzweigungen der Humankategorien wirkten Angebot und Nachfrage nach Impfstoffen und der Grad der gesellschaftlichen Obligation zur Impfung. Vor dem Hintergrund der anfänglichen Impfstoffknappheit wurden die Impflinge in die schon geimpften und die „als nächste“ oder später zu impfenden Personen sortiert und letztere von Januar bis Juni 2021 vier politisch-administrativen Priorisierungsklassen zugeordnet. Diese Klassen rekurrierten auf Unterscheidungen von Risikogruppen nach Alter, Erkrankungsrisiko und Vorerkrankungen sowie auf „systemrelevante“ Berufe.
9 Dies valorisierte zum einen die Versorgungsleistungen dieser Berufe für die Gesamtbevölkerung, zum anderen fokussierte es die Angehörigen medizinischer Berufe auf hochambivalente Weise (Kaldewey
2022). Sie erhielten öffentliche Aufmerksamkeit einerseits als das von Infektion und Krankheitsausfall verstärkt bedrohte Versorgungspersonal der Erkrankten, andererseits als potenzielle Gefährder von Risikogruppen. Dieselbe Ambivalenz fand sich schon ab März 2020 im Verhältnis zu Kindern. Während sich das Image von Angestellten in Pflegeberufen von „Schutzpersonal“ hin zu potenziellen Gefährdern verschob, wurden Kinder immer weniger als Schutzbefohlene gesehen denn als distanzlose „Gruppenwesen“ mit Gefährdungspotenzial, die man als getarnte Virusträger beäugte – sowohl angesichts ihrer „wilden“ Sozialität als auch aufgrund der in ihrem Fall nicht selten fehlenden oder schwachen Symptome (so explizit etwa in der taz
2020).
Nach der dritten Welle, im Sommer 2021, wurde erstmals kurz diskutiert, ob Geimpfte und Genesene Sonderrechte bekommen und im Alltag von den AHA-Regeln befreit werden könnten. Man entschied sich schließlich dagegen, weil ihre Infektiosität noch unbekannt und die Alltagstauglichkeit der Überprüfung unklar war. Solche Sonderrechte hätten zu diesem frühen Zeitpunkt aber auch zwei Folgeprobleme der Humandifferenzierung aufgeworfen. Erstens wäre im Alltag aufdringlich sichtbar geworden, welches „Zweiklassensystem“ die politisch verordnete Impfpriorisierung schuf. Daher wurden Geimpfte auch aus Gründen des gesellschaftlichen Zusammenhalts weiter in Maskenverantwortung gehalten. Zweitens gab es das Erkennbarkeitsproblem, da man den Impfstatus in der Öffentlichkeit noch nicht gut kontrollieren konnte. Man hätte unmaskierte Geimpfte ohne weitere Erkennungszeichen und Kontrollen nicht von ungeimpften „Maskenmuffeln“ unterscheiden können und so die Wirksamkeit und Akzeptanz der AHA-Regeln untergraben.
Im Verlauf des Jahres 2021 erfuhr die neue Unterscheidung starke Veränderungen. Das betraf erstens die
Besetzungsstärke ihrer Kategorien: Die Menge der Geimpften wurde in wenigen Monaten von einer Minderheit zu einer Mehrheit (BMG
2023). Ein solcher Umschwung der Besetzungsstärke würde bei den Wählern von Regierungs- und Oppositionsparteien als „Erdrutsch“ gelten. Auch wurde die Kategorie der Impfbaren durch Absenkung der Altersschwelle erst auf Jugendliche, dann auf Kinder, immer inklusiver. Ein Großteil der Bevölkerung hatte damit den selbstgewählten Seitenwechsel zum elementar Geschützten vollzogen, dessen Gesundheit von einer Infektion weniger bedroht sein sollte.
Zweitens kam es seit dem Frühjahr 2021 zu einer kategorialen
Ausdifferenzierung der Geimpften in Erst- und Zweitgeimpfte sowie „Geboosterte“ als temporärem Standard auf dem Weg zum Durchgeimpften. Tatsächlich hätte sich die medizinische Auffrischungsnotwendigkeit der Impfung genauer nach der individuellen Zahl von Antikörpern bemessen lassen. An die Stelle entsprechender Tests, denen es an klaren Grenzwerten und an hinreichender Verfügbarkeit fehlte, trat mit dem Wegfall der Impfpriorisierung seit Juni 2021, d. h. mit Ende der dritten Welle, die alltagstaugliche bürokratische Zählung der Impfungen und ihre politische Wertung als „einfach, vollständig, zusätzlich“. Als sich spätestens mit Aufkommen der Omikron-Variante Ende November 2021 die Notwendigkeit weiterer „Booster“ abzeichnete, verschob sich die Bedeutung von „vollständig“.
10 Die Selbst- und Fremdkategorisierung als „durchgeimpfte“ Person bot spätestens seit dem „zweiten Booster“ keine Gewissheit mehr über die eigene Gesundheitsgefährdung.
Drittens veränderte die Unterscheidung ihre Bedeutung. Anfang 2021 trennte sie die, die schon „dürfen“, von den vielen, die noch aufs Impfen warten müssen. Seit dem Herbst 2021 teilte sie im dominanten politischen Diskurs die auf der „richtigen“ Seite von einem zunächst zwiespältigen Rest aus Impfunwilligen und Impfuntauglichen. Mit der Vergrößerung der Menge der Geimpften und Impfbaren wurde dieser „Rest“ weiter kategorial und semantisch spezifiziert: Nicht-Impfbare wie Schwangere, Kinder, manche Alte und Immunsupprimierte, wie etwa Organempfänger, galten als Gefährdete und zu Schützende, Impfskeptiker als durch Kampagnen zu Überzeugende, Impfgegner als zu Sanktionierende und im sozialen Umgang zu Beschämende.
Diese Verschiebung hatte auch den infrastrukturellen Hintergrund, dass sich im Herbst 2021 die Marktlage einer drängenden Nachfrage für ein knappes Impfstoff-Angebot zu einer potenziellen Vollversorgung der Gesamtbevölkerung gedreht hatte. Zu eben diesem Zeitpunkt wurden sukzessive Beschränkungen der Zugangsberechtigung zu Einrichtungen eingeführt, die sich auf die Kategorien der Geimpften, Genesenen und Getesteten stützten und eine kontrollierbare räumliche Segregation zur Folge hatten. Den Geimpften und Genesenen wurde eine geringe Selbst- und Fremdgefährdung, den Getesteten eine zumindest temporär geringere Fremdgefährdung unterstellt. Für die Restriktion von Zugängen wurden seit Mai 2021 mit der 3G- und 2G-Regel
Kategoriencluster hergestellt – kategoriale „Klumpungen“ im Sinne von Zerubavel (
1996). 3G fasste Geimpfte, Genesene und Getestete zusammen, während die 2G-Regel die Nicht-Geimpften abspaltete und vom Zugang zu vielen Einrichtungen ausschloss.
11 Mit der expliziten Ausgrenzung „Ungeimpfter“ wurde ein starker politischer Druck in Richtung Impfungen aufgebaut (Wehling
2023). Aus der Theorieperspektive der Humandifferenzierung drängte sich der Impfstatus neben den medizinischen und gesundheitspolitischen Vorteilen der Impfung auch deshalb als zweite Leitunterscheidung auf, weil er, anders als der chronisch labile Infektionsstatus, leicht feststellbar, zählbar, zertifizierbar und eindeutig am eigenen Leib erfahrbar war.
Die Verschiebung der pandemischen Leitunterscheidung hin zur Impfung hatte den interessanten Effekt, dass die Stigmatisierung, die seuchengeschichtlich nur als irrationaler Sündenbockmechanismus, nämlich als Ethnisierung oder religiös motivierte Diffamierung, in Erscheinung trat, mit den Impfgegnern ein politisch rationales Objekt fand. Der Druck auf sie nahm mit der Stagnation der Impfkampagne seit dem Herbst 2021 (in pandemischer Zeitrechnung: im Anstieg der vierten Welle) kontinuierlich zu. Ferner kam es mit dem politischen Diskurs um eine Impfpflicht auch zu einer Polarisierung entlang der Frage der politischen Haltung
zur Impfung. Sie konnte entstehen, weil die Wertepräferenz bei der ersten Leitunterscheidung nach Infektionsstatus noch gesellschaftlicher Konsens war – es ist besser, sich nicht zu infizieren –, bei der zweiten dagegen offen wurde für weltanschauliche Devianz. Mit der Spezifikation der Nicht-Geimpften und der Herauslösung der bloß Säumigen, Indifferenten, Zögernden aus dieser Menge wurde allmählich die moralisch deviante Minderheit von Impfgegnern herauspräpariert, die sich ihrerseits selbst als relevante Seite einer „Spaltung der Gesellschaft“ stilisierte (Frei und Nachtwey
2021, S. 12).
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Die im Winter 2021/22 antizipierte und mit den Ungeimpften assoziierte neuerliche Zuspitzung der Gefahr für die Gesundheit wurde, wie schon im Winter des Vorjahres, im Engpass von Intensivbetten gesehen. Vor diesem Hintergrund wurde im Januar 2022 im Angesicht der drohenden Omikron-Welle eine Erneuerung der Triage als „tragischer“ Form der Humandifferenzierung diskutiert (siehe Abschnitt 5). Damit verschob sich die Bedeutung des Impfstatus ein weiteres Mal. Als der argumentative Appell ans vernünftige und solidarische Impfen sich in Richtung einer verordneten Impfpflicht entwickelte, wandelte sich die Reputation des Nichtgeimpftseins von der legitim abweichenden Meinung zur unsolidarischen Verweigerung. Impfverweigerer erschienen zunehmend als systemische Gefährder, die die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems unterminieren, die lebensrettende Behandlung von anderen Erkrankten blockieren, eine schnellere Eindämmung der Pandemie verzögern und wirtschaftliche Existenzen aufs Spiel setzen.
Hintergrund dieser Entwicklung war ein anderer
Rekrutierungsweg in die Kategorien der beiden verwandten Leitunterscheidungen: Zum Infizierten wird man durch meist unwissentlichen Kontakt, zum Geimpften durch persönliche Entscheidung. Diese war zwar durch gesundheitspolitische Aufklärung und gesellschaftlichen Druck massiv diskursiv beeinflusst, blieb aber letztlich klar individuell zurechenbar. Das verschob auch die moralische Bedeutung der Kategorien der ersten Leitunterscheidung: Infizierte waren nicht mehr nur Opfer einer Ansteckung, an der sie nur vielleicht „leichtsinnig“ beteiligt sein konnten, sie kamen auch als unsolidarische und gegenüber sich selbst wie anderen entschlossen verantwortungslose Gesellschaftsmitglieder in Betracht, insbesondere wenn sie schwere Symptome entwickelten.
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