Die Europäische Union ist mithin durch eine juridische, politische und institutionelle Pfadabhängigkeit gekennzeichnet, die Änderungen einmal geschlossener Verträge unwahrscheinlich macht. Dabei ist es naturgemäß keineswegs so, dass die vertragsschließenden Parteien die Effekte ihrer Vereinbarungen immer absehen können. Dies allein deswegen schon nicht, weil das europäische Projekt zwar ein Gemeinschaftsprojekt, aber zugleich auch ein Konglomerat von Einzelprojekten und unterschiedlichen Interessen ist, die in eine kompromisshafte Vielzahl völkerrechtlicher Verträge gegossen wurden (Nußberger
2017). Dazu kommen Herausforderungen, die niemand voraussehen konnte.
3 Was aber passiert, wenn statt einer für sicher geglaubten Entwicklung unerwünschte Wirkungen und Nebenfolgen eintreten? Die hier vertretene These lautet: Die Europäische Union ist als institutionelles Hemmwerk zur Selbstkorrektur strukturell unfähig. Einmal vorgenommene Weichenstellungen können nur um den Preis umfangreicher Entflechtungen rückgängig gemacht werden, die mit prohibitiven Kosten verbunden sind. Die zentrale Stärke der EU, nämlich ihre institutionelle Stabilität, ist somit zugleich ihre zentrale Schwäche, insofern sich eingeschlagene Entwicklungsrichtungen als korrekturbedürftig erweisen. Diese These soll im Folgenden für den Binnenmarkt und die Einheitswährung sowie – in aller Kürze – für den Brexit veranschaulicht werden. Als Gegenprobe dient das Corona-Hilfspaket, da es als präzedenzloser Fall europäischer Solidarität jenseits der Pfadabhängigkeit gilt.
3.1 Einheitswährung und Transfezwang
Die außergewöhnliche politische Konstellation der 1990er-Jahre erleichterte ein spezifisches Konstrukt, das sowohl Deutschlands wie auch Frankreichs Intentionen bezüglich der schon informell beschlossenen Einheitswährung Rechnung trug. Frankreich wollte lediglich eine einheitliche Geldpolitik, Deutschland die Unabhängigkeit der neu zu schaffenden Europäischen Zentralbank gewahrt wissen. Im Ergebnis wurde die Geld- und Währungspolitik zentralisiert, die sonstige Wirtschaftspolitik aber bei den Nationalstaaten belassen, wobei die Fiskalpolitik der Mitgliedsländer durch strikte Regeln eingeschränkt werden sollte. Da nun die Kompensation divergierender Wirtschaftsentwicklungen qua Wechselkursanpassung entfiel, es auf europäischer Ebene aber weder – wie in der Bundesrepublik – bedeutende Umverteilungen durch eine Zentralregierung noch – wie in den USA – eine quasi automatische Stabilisierung durch übergreifende Sozialversicherungssysteme gibt, funktioniert dieses Modell nur bei einer halbwegs gleichlaufenden wirtschaftlichen Entwicklung in den Mitgliedsländern und/oder bei genügender Flexibilität der nationalen Arbeits- und Gütermärkte (de Grauwe
2020, S. 148 ff.).
Von diesen Bedingungen war und ist die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion weit entfernt. Die Mehrzahl der Ökonomen warnte denn auch vor der Einführung des Euro, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven und zum Teil auf der Grundlage von Erwartungen, die nicht eintraten. Während vor allem deutsche Volkswirte einen Inflationsschub befürchteten, gaben angelsächsische Ökonomen der Einheitswährung von vornherein kein langes Leben (Jonung und Eoin
2009), womit sie die Entschlossenheit der europäischen Eliten, den Euro zu bewahren, unterschätzten. Diese Entschlossenheit ist indes nicht etwa fehlendem Verständnis der politischen Führungsfiguren für wirtschaftliche Zusammenhänge geschuldet (de Grauwe
2020, S. ix). Vielmehr war den Architekten des Euros sehr wohl bewusst, dass die unvollständige Währungsunion Probleme und Krisen erzeugen würde. Diese würden aber, so das Kalkül, weitere Schritte zur Vergemeinschaftung erzwingen, da man den Weg zurück zu den Nationalwährungen als versperrt begriff. Wie die entsprechenden Zitate bei Elliot und Atkinson (
2017, S. 11 f.) zeigen, verstand man den Euro als eine Lokomotive, welche die Gemeinschaft weiter in Richtung ökonomischer Konvergenz und politischer Union ziehen würde.
Diese Lokomotiventheorie ist im ersten Teil, der Hoffnung auf mehr Konvergenz unter den Mitgliedstaaten, gescheitert. Gemäß zentralen Kennziffern haben sich die Euro-Länder vor allem auf der Nord-Süd-Achse sogar seit der Eurokrise wieder auseinanderentwickelt (Franks et al.
2018; Heidenreich
2022). Überdies sind vergleichbare Nicht-Euroländer stärker gewachsen (König
2017; Heidenreich
2019; Gräbner et al.
2020). Die makroökonomischen Kosten und Gewinne des Euro sind somit umstritten und letztlich wohl auch kaum zu beziffern, da dies einen Vergleich mit seiner Nicht-Einführung erfordern würde (Lane
2006; Beetsma und Giuliodor
2010; de Grauwe
2020, S. 72 ff.). Besonders schlimm kam es für das europäische Kernland Italien, das dank seiner potenten nördlichen Hälfte vor Einführung des Euro eines der wettbewerbsfähigsten Länder war und nun seit zwei Jahrzehnten stagniert (Santambrogio
2018).
Scheinbar etwas besser sieht es mit dem zweiten Teil der Lokomotiventheorie aus, der Hoffnung auf Entstehung einer politischen Union. Da die Ökonomien der Euroländer heterogen blieben, hätte der Ausgleich ihrer unterschiedlichen Wettbewerbsfähigkeiten und Konjunkturzyklen über die Regeln und Regulierungen zur Haushaltsdisziplin erfolgen sollen, welche zusammen mit der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion eingeführt und immer wieder reformiert und verschärft wurden – zuletzt mit der Einführung der „Fiskalunion“ 2012. Zu ihrer Überwachung sind verschiedene Kontrollinstanzen – darunter die EU-Kommission – und Verfahren wie das „Europäische Semester“ oder der „Sixpack“ vorgesehen.
4 Diese Koordinierungsinstrumente der Wirtschafts‑, Fiskal- und Haushaltspolitik haben jedoch den Nachteil, dass sie im Ernstfall nicht greifen. Souveräne Staaten lassen sich eben nicht „wie Odysseus an den Mast binden, das heißt glaubwürdig auf ein Verhalten in der Zukunft festlegen“ (Becker und Fuest
2017, S. 130). Ein striktes Festhalten an Artikel 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der Nichtbeistandsklausel, wird unter oben geschilderten Bedingungen immer wieder „exorbitante Anpassungsleistungen“ (Scharpf
2017, S. 297) von den Bevölkerungen der südlichen Länder verlangen. Im Konfliktfall mit den Kontrollinstanzen werden sich die nationalen Regierungen eher ihrer eigenen Wählerschaft verantwortlich fühlen als Gremien, deren demokratische Legitimierung nicht unmittelbar einsichtig ist. In so einem Fall den bedrängten Mitgliedsländern, wie eigentlich vorgesehen, die Unterstützung zu verweigern, lässt sich politisch und ökonomisch kaum durchhalten. Somit stellt sich im Krisenfall eben stets die Frage, ob nur eine (partielle) Vergemeinschaftung von Schulden oder schon eine deutliche Erhöhung der Transfersummen die Währungsunion zusammenhalten kann (Immerfall
2013).
3.2 Wenig Flexibilität in den Prä-Brexit-Verhandlungen
Die Heterogenität in der – sich, wie es lange Zeit schien, stetig erweiternden – Europäischen Union hat zugenommen. Das gilt wirtschaftlich, denn die Hoffnung auf Konvergenz qua Währungsunion hat, wie gesehen, erkennbar getrogen. Speziell angesichts deutlicher Unterschiede zwischen West- und Osteuropa, etwa mit Blick auf Familienpolitik und Minderheitenrechte, gilt es aber auch kulturell (Coman
2017; Krăstev
2017). In gewisser Weise haben sich die Raumdimensionen Stein Rokkans (
2000) umgedreht: Die ökonomischen Spannungen verlaufen jetzt in Nord-Süd-, die kulturellen Spannungen in Ost-West-Richtung. In einer solchen Situation würde man mehr Flexibilität bei der rechtlichen Vereinheitlichung erwarten, um den nationalstaatlichen oder auch regionalen Spezifika besser Rechnung zu tragen.
Flexibilisierung war in den Prä-Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien ab 2016 denn auch das zentrale Thema (Eppler
2018). Doch Camerons Hoffnung auf stärkere deutsche Unterstützung für mehr Flexibilität erwies sich als vergebens (Webber
2019, S. 195 f.). Dabei war diese Hoffnung nicht unberechtigt: Um zu verhindern, dass Empfängerländer in Versuchung geraten könnten, höhere Leistungen zulasten der wenigen Geber zu beschließen, hat die EU 2009 im Lissabon-Vertrag Abstimmungsregeln vereinbart, wonach bei vielen Fragen eine doppelte Mehrheit von mindestens 55 % der Mitgliedstaaten und 65 % der in diesen Ländern lebenden Bevölkerung zusammenkommen muss. Dadurch kamen Deutschland, Großbritannien, Österreich, die Niederlande, Finnland und die baltischen Staaten, die vermehrter EU-Umverteilung ebenfalls skeptisch gegenüberstehen, im Ministerrat nicht ganz zufällig auf eine Sperrminorität von 35,85 % der Bevölkerung. Mit dem Wegfall Großbritanniens fällt diese austarierte Machtstruktur: Deutschland kann nun leichter überstimmt werden. Doch die EU kam den britischen Petenten nur in Nuancen entgegen, z. B. mit Zugeständnissen bei der Indexierung von Kindergeldzahlungen ins Ausland und der zeitlichen Streckung des Zugangs von EU-Zuwanderern zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Aus britischer Sicht war die erzielte Übereinkunft so mager, dass sich Camerons Team entschloss, sie in der Kampagne für den Verbleib gar nicht zu erwähnen (Webber
2019, S. 199).
Es ist daran zu erinnern, dass der Ausgang des Brexit-Dramas zu keinem Zeitpunkt vorherbestimmt war. Sicher wird man den Hauptteil der „Schuld“ bei David Cameron und seiner riskanten Spekulation verorten müssen, mittels eines Referendums die innerparteiliche Auseinandersetzung zu entscheiden – eines Referendums überdies, das dem parlamentarischen System Großbritanniens widersprach, dessen Alternativen nicht klar benannt waren und das rechtlich auch gar nicht bindend war, wenngleich dies allgemein so verstanden wurde. Auch nach dem knappen Ausgang blieben die Anhänger eines harten Brexits in der Minderheit (Vasilopoulou und Talving
2019). Da aber die Befürworter einer engen Bindung an die EU sich nicht einigen konnten, ebnete das Scheitern Theresa Mays den Weg für den Aufstieg Boris Johnsons, der die Parlamentswahlen 2019 als unbeliebter Kandidat gegen Jeremy Corbyn, den noch unbeliebteren Führer einer in der EU-Frage gespaltenen Oppositionspartei, gewann. Dieser Sieg gründete vor allem darauf, dass die Bevölkerung der taktischen Winkelzüge in der Brexit-Frage offenbar überdrüssig war.
Die EU konnte in dieser innenpolitischen Auseinandersetzung nur ungläubiger Zuschauer sein. Insbesondere in Deutschland, dem Hauptprofiteur des Binnenmarktes, tat man sich schwer, zu verstehen, dass offenbar beträchtliche Teile der britischen Bevölkerung im Gegenzug für nationale Selbstbestimmung resp. „Souveränität“ Wohlstandsverluste zu akzeptieren bereit waren (Elliott und Atkinson
2017). Eine in Deutschland wenig verstandene Rolle spielte dabei auch die Furcht vor der zunehmend starken Stellung des EuGH sowie vor weiteren Verlagerungen von Entscheidungsbefugnissen auf juristischer Ebene. Dieser Vorrang der Gerichtsgewalt ist Ländern wie Großbritannien oder der Schweiz, wo politische Entscheidungen in der Regel in der politischen Arena getroffen werden, strukturell fremd.
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Beide Seiten, sowohl „Leave“ als auch „Remain“, argumentierten im Vorfeld des Referendums mit Un- und Halbwahrheiten. Am weitesten ging dabei sicherlich die Behauptung der Brexiteers, ein reibungsloser Zugang zum EU-Markt sei ohne Abstriche möglich. Das konnte die EU natürlich nicht erlauben, ohne die Integrität des Binnenmarktes als Herzstück der Union zu gefährden. Insofern war es aus EU-Sicht ein Erfolg, dass sich die Mitgliedstaaten im Verlauf der Brexit-Verhandlungen nicht – wie von Großbritannien erwartet – spalten ließen. Dabei spielte auch die u. a. von Manfred Weber (
2020), Vorsitzender der EVP-Fraktion im EU-Parlament, artikulierte Angst eine Rolle, der Brexit könnte Nachahmer finden: „Wenn der Brexit gefühlt zum Erfolg wird, dann ist das der Anfang vom Ende der EU.“ Großbritannien müsse die Folgen des Austritts zu spüren bekommen. Das wurde erreicht: So wurde beispielsweise Großbritannien der Wiederbeitritt zum Lugano-Übereinkommen verweigert, das grenzüberschreitende Gerichtsverfahren vereinfacht (Kohler
2021). Solch kleines Karo spricht nicht für eine von der eigenen Stärke und Attraktivität überzeugte Union.
Wenn das zweitgrößte Mitgliedsland, der drittgrößte Beitragszahler, die führende Militärmacht Westeuropas, ein Mutterland moderner demokratischer Institutionen und die Heimat Sitz einiger der weltweit besten Universitäten die Exit-Karte zieht – wie unklug das auch immer sein mag –, spätestens dann wäre es an der Zeit für Selbstreflexion. Abwanderungen signalisieren Mängel. Die Führungskräfte der in Rede stehenden Organisation sollten versuchen, Prozesse einzuleiten, um die mutmaßlichen Fehler zu beheben (Hirschman
1974, S. 18 ff.). Doch die Karawane zieht unbeirrt weiter (Munin
2016).
3.3 Der Wiederaufbaufonds als „Hamilton-Moment“?
Die spezifische Konstruktion der Währungsunion erfordert im Krisenfall eine mindestens partielle Schuldenvergemeinschaftung und/oder deutliche Transfersummen.
6 Ein solches Instrument stellt der auch als „Rettungsschirm“ bekannte Europäische Stabilitätsmechanismus dar, der bei den Empfängerländern jedoch unbeliebt blieb, da mit harten Auflagen verbunden (Matthes
2015). Immer wieder diskutiert wurden Euro-Bonds, insbesondere in der Form einer Aufteilung in sogenannte European Safe Bonds (ESBies) und spekulative „Junior Bonds“ (Brunnermeier et al.
2017). Dadurch würde das Problem der Gemeinschaftshaftung ein Stück weit entschärft. Zwar müssten Deutschland und die anderen Euroländer mit guter Bonität in diesem Fall bereit sein, höhere (Zins‑)Kosten zu tragen, dem stünden aber auch Vorteile gegenüber. So könnte durch zwischenstaatliche Risikoteilung der gemeinsame Währungsraum robuster gemacht werden (Schelkle
2017). Außerdem würde der europäische Kapitalmarkt, der gegenüber dem US-amerikanischen stark unterentwickelt ist, gestärkt. Dies würden nicht nur die großen Finanzmarktakteure als neue Investitionsmöglichkeit begrüßen, sondern auch Länder wie China oder die Ölstaaten, die ihre Schuldenbewirtschaftung diversifizieren möchten.
Mit und in der Corona-Krise wurde eine etwas andere Lösung gefunden. Sie beruhte im Wesentlichen auf Vorschlägen von Frankreichs Präsident Macron, die von Deutschland lange mit Stillschweigen bedacht worden waren (Uterwedde
2019). Erst mit der Corona-Krise kam es zu einer der berühmten Merkel-Volten, dem „Sprung der Bundeskanzlerin“ (van Middelaar
2021, S. 99) in Form eines gemeinsamen Vorschlags der deutschen und der französischen Regierung zur Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission. Hatte die Kanzlerin in der Eurokrise stets betont, mit ihr werde es, „solange sie lebe“ (Isenson
2012), keine Gemeinschaftsschulden geben, wurde nun einmal mehr deutlich, dass die ökonomischen und politischen Kosten, bedrängten Mitgliedsländern die Unterstützung zu verweigern, untragbar sind. Dies konnte auch als Zeichen europäischer Solidarität gefeiert werden, nachdem zu Beginn der Pandemie die Zeichen auf Abschottung standen (ebd., S. 67 ff.).
7 Vergleichsweise rasch – nämlich bereits auf einer außerordentlichen Tagung im Juli 2020 – einigte sich der Europäische Rat auf eine komplexe Änderung der EU-Finanzverfassung, die in der Folgezeit in verschiedene Gesetzesvorhaben gegossen wurde. Kern ist ein Extra-Haushalt der EU im Umfang von 750 Milliarden Euro, von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als Aufbauinstrument „Next Generation EU“ (NGEU) präsentiert. Das Geld wird auf den Finanzmärkten aufgenommen und soll bis 2058 zurückgezahlt werden. Ein Teil geht in Form verlorener Zuschüsse, ein anderer Teil in Form von Krediten an die Mitgliedsländer (jeweils zu Preisen von 2018, siehe die Grafiken bei Berschens
2020).
Kleinere Teile des Paktes sollen mittels EU-Steuern – wie einer „Plastiksteuer“ – getilgt werden oder stammen aus anderen EU-Fonds; der Löwenanteil („Aufbau- und Resilienzfazilität“) ist jedoch kreditfinanziert. Da aber die Kommission ohne Vertragsänderung eigentlich keine Schulden aufnehmen darf, wurde die EU-Eigenmittel-Obergrenze „vorübergehend“ um 0,6 auf 2 % der Wirtschaftskraft der EU-Staaten angehoben. Dies hat den schönen Nebeneffekt, dass das Instrument die Schuldenlast der Mitgliedsländer haushaltstechnisch nicht erhöht. Der Bundestag stimmte dem neuen Eigenmittelsystem trotz Bedenken des Bundesrechnungshofs am 25. März 2021 mit deutlicher Mehrheit zu. Der Rechnungshof hatte darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten gemeinschaftlich für die Schulden des Fonds haften, sodass Deutschland ggf. über seinen Anteil von derzeit rund 27 Prozent am EU-Haushalt hinaus nachschusspflichtig werden könnte.
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Um die Zuschüsse und Darlehen aus dem Aufbau-Instrument zu erhalten, müssen die Mitgliedsländer Pläne präsentierten, die zeigen, dass sie die Gelder nicht einfach in den regulären Haushalt stecken, sondern für Prioritäten der EU aufwenden. Zu diesen zählen in erster Linie der Übergang zu einer grünen Wirtschaft, der digitale Wandel, intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wachstum, der soziale und territoriale Zusammenhalt, die Stärkung der Widerstandsfähigkeit und Krisenvorsorge sowie Strategien, die den kommenden Generationen zugute kommen. Die Kommission bewertet die Pläne und unterbreitet dem Rat für jedes Land einen Vorschlag, dem die Finanzminister zustimmen müssen – im Konfliktfall muss der Europäische Rat entscheiden. Da die ökonomisch am stärksten getroffenen Staaten am meisten aus dem Wiederaufbaufonds bekommen, wird logischerweise Deutschlands Beitrag zum EU-Haushalt steigen. Das war bereits mit dem Brexit absehbar. Neu ist, dass jetzt auch Italien Nettoempfänger wird.
„Next Generation EU“ wurde mit großen Worten bedacht. Der damalige Finanzminister Olaf Scholz sprach von einem „Hamilton-Moment“
9 (Dausend und Schieritz
2020), der den Alten Kontinent auf völlig neue Art zusammenrücken lasse. Selbst der ansonsten zurückhaltende Luuk van Middelaar (
2021, S. 38, 178) meinte eine Metamorphose der Union zur europäischen Schicksalsgemeinschaft erkennen zu können (ähnlich Habermas
2020, S. 56; Fabbrini
2020). Laut Jens van Scherpenberg (
2022, S. 30) ist das Programm „ein kaum zu unterschätzender integrationspolitischer Fortschritt für die EU“. Demgegenüber möchte ich die These vertreten, dass das Corona-Anleihepaket in der oben beschriebenen Logik des Zwangs zur partiellen Schuldenvergemeinschaftung gesehen werden muss und daher keinen Bruch im europäischen Integrationsprozess darstellt. Die unterschiedliche Interpretation hat Folgen für integrationspolitische Erwartungen. Ist das Coronahilfspaket Ausdruck einmaliger europäischer Solidarität oder „nur“ ein weiterer, wenn auch großer, Schritt zur unvermeidlichen Transfer- und Schuldenunion, dem weitere folgen werden?
Gegen die mit der Formel „Hamilton-Moment“ angedeutete Interpretation, das Corona-Hilfspakt stelle eine präzedenzlose solidarische Innovation infolge einer geteilten Notlage dar, welche die EU auf eine neue Grundlage stellt, sprechen zunächst einmal schon Ähnlichkeiten mit früheren Programmen. Die Idee, dass die Kommission besser als die nationalen Regierungen weiß, wie mit Finanzmitteln umzugehen ist, entspricht in den Grundzügen dem bereits oben diskutierten Europäischen Semester, wobei die bisherigen Erfahrungen nicht zu übermäßigem Optimismus Anlass geben.
10 Sodann war die Europäische Union auch bisher schon am Kapitalmarkt tätig, wenngleich in deutlich geringerem Umfang, wie im Falle des Europäischen Instruments zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage (SURE).
11 Abweichend gegenüber der Euro-Staatsschuldenkrise werden die Gelder nicht durch neue zwischenstaatliche Institutionen, sondern über den EU-Haushalt zur Verfügung gestellt.
Als eine wirkliche Neuerung könnte sich indes die grundsätzliche, wenn auch mit zahlreichen Kautelen versehene Einigung der Staats- und Regierungschefs erweisen, dass künftig Gelder aus dem EU-Haushalt gekürzt werden können, wenn Mitgliedstaaten gegen Rechtsstaatsprinzipien verstoßen. Mag man dies in der selbsternannten „Wertegemeinschaft“ auch für eine pure Selbstverständlichkeit halten, so könnte genau dieser Gipfelbeschluss sich als folgenreich erweisen. Es wird sich zeigen, ob Ungarn und Polen, aber auch weniger offen widerspenstige Mitglieder wie Slowenien oder Bulgarien einer EU mit deutlich weniger Subventionen zugehörig bleiben wollen. Noch aber ist völlig unklar, ob der Rechtsstaatsmechanismus Zähne hat und wie rasch er greifen kann.
Mit der kreditfinanzierten Aufbau- und Resilienzfazilität hat die EU einmal mehr ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, in Krisen neue Instrumente zu entwickeln. Erstmals werden gemeinsame Anleihen im großen Stil ausgegeben. Das neue Instrument bewegt sich aber im vorgezeichneten Pfad, der in Richtung partieller Schuldenvergemeinschaftung und/oder deutlicher Erhöhung der Transfersummen weist. Eine Analyse, warum die Ziele der vorgängigen Lissabon-Strategie und der Strategie „Europa 2020“ verfehlt wurden, wurde nicht vorgelegt; hingegen hielt man an der Hoffnung fest, ein zentrales System zur Überwachung gemeinsamer Ziele würde europäischen Mehrwert schaffen. Letztlich sind es aber die nationalen Regierungen, die über Erfolg und Misserfolg der Modernisierung ihrer Volkswirtschaften entscheiden. Und diese werden sich in der nächsten Krise daran erinnern, dass EU-Schulden eine sehr praktische Idee sind.