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Erschienen in: Informatik Spektrum 2/2023

Open Access 12.04.2023 | HAUPTBEITRAG

Fake Science – zwielichtige Wissenschaft

verfasst von: Hans-J. Lenz

Erschienen in: Informatik Spektrum | Ausgabe 2/2023

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Zusammenfassung

Im Folgenden wird die erschreckende Breite von Fake Science vor Augen geführt. Da ist zum einen die von Wirtschaft und Industrie finanzierte, zweckgebundene Auftragsforschung, deren Forschungsziel es einzig ist, nicht Hypothesen zu bestätigen oder zu beweisen, sondern Verwirrung unter der Bevölkerung beim Kausalzusammenhang von gesellschaftlichen Phänomenen zu stiften. Der Zusammenhang von Rauchen und Lungenkrebs fällt hier runter. Zum anderen wird die Aufrichtigkeit des gesamten Wissenschaftsbetriebs ausgehebelt, indem Pseudoverlage und -tagungen (vermeintlichen) Wissenschaftlern die Möglichkeit bieten, Manuskripte ungeprüft zu veröffentlichen oder Vorträge zu halten, deren Inhalt fragwürdig oder sogar Unsinn ist. Wie immer beim Datenbetrug bilden Profit oder Prestige den Antriebsmotor.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Es gibt wohl kaum eine Manipulationsart, die Wissenschaftler so berührt oder berühren sollte wie Fake Science. Dies gilt nicht nur für wahrheitsuntreue Studienaussagen im Rahmen industrieller Auftragsforschung, die seit den 1990er-Jahren unter diesem Begriff subsumiert werden. Fake Science hat darüber hinausgehende Facetten, auf die noch einzugehen ist, trifft die Wissenschaft im Kern, erschüttert den gesamten Wissenschaftsbetrieb und ist geeignet, Forschung als solche in der Öffentlichkeit zu korrumpieren oder zumindest Laien zu verwirren. Ist ein Beispiel gefällig?
Greifen wir einen krassen Fall von Fake Science heraus, einen, den die Tabakindustrie zu verantworten hat. Jahrzehntelange Experimente und Beobachtungsstudien an Tieren und Menschen haben seit den 1950er-Jahren die Hypothese abgesichert, dass Rauchen die Gesundheit von Rauchern gefährdet, da Teer, Nikotin und Tabakreststoffe Herz und Lunge angreifen und zu Karzinomen (Lungenkrebs) führen. Dies gilt heutzutage als gesichertes Wissen der Menschheit. Treibende Kraft in der Risikoforschung waren weltweit Forschergruppen wie die des Mediziners Stanton Glantz, Center for Tobacco Control Research and Education, USA, dem der Nachweis gelang, dass der Teer in Mäusen Lungenkrebs verursacht [1]. Der Whistleblower Mr. Budd, ein kleiner Angestellter der US-Tobacco-Industrie, schickte 1994 eine umfangreiche Sammlung von geheimen Dokumenten, die aus den Chefetagen der amerikanischen Tabakindustrie stammten, an das Institut von Glantz. Sie legten deren Ziele und Manipulation offen. Die Bosse von – auszugsweise – Philip Morris, R.J. Reynolds, British American Tobacco (BAT), standen seinerzeit vor dem Problem, wie sie auf die zunehmenden Warnungen der Politik vor den Gefahren des Rauchens, abgedruckt auf den Zigaretten‑, Zigarren- und Tabakverpackungen, reagieren sollten, da sie die für geschäftsschädigend hielten. Statt Gegengutachten in Auftrag zu geben, entschloss sich das Topmanagement der Tabakkonzerne in einer konzertierten Aktion zu einer viel ausgeklügelteren Strategie, der Verwirrungsstrategie [1]. Die Gesundheitsgefährdung als solche wurde nicht in Abrede gestellt, vielmehr gaben die Konzerne zweckgebundene Studien und Gutachten in Auftrag, mit denen durchaus namhafte Wissenschaftler beauftragt wurden, um Zweifel an den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und am „wahren Schuldigen“ zu säen. So wurden beispielsweise das „Passivrauchen“ und das Zigarettenpapier als Mitverursacher oder jüngst die These: „die Verbrennung, nicht Nikotin, ist die Hauptursache für rauchbedingte Krankheiten“ [3], in weltweiten Kampagnen in allen denkbaren Medien ins Spiel gebracht, siehe Abb. 1. Auch psychologische und soziale Probleme sowie fehlende Hintergrundinformation der Bevölkerung wurden als weitere Einflussfaktoren angeführt. Die Ablenkungsforschung, also Zweifel am Erkenntnisstand der Wissenschaft durch den Einsatz bezahlter Wissenschaftler zu säen, zielte nicht auf Widerspruch oder Gegenbeweis ab, sondern will in der breiten Öffentlichkeit bewusst Verwirrung und Unklarheit stiften, indem sie auf eine Vielzahl alternativer Einflussfaktoren hinweist. Den weltweit und wiederholt bestätigten, medizinischen Erkenntnissen über das Rauchrisiko zum Trotz wird die Aussage gegenübergestellt, „nicht falsch“, sondern „wir wissen es nicht“ [1]. Hierin liegt das Übel der Vorgehensweise der Tabakindustrie, die Zweifel, bekanntermaßen ein fundamentales Konzept von Forschung und Entwicklung, strategisch gegen etablierte, wahre wissenschaftliche Erkenntnis einsetzt. Kurz, Wissenschaft bekämpft sich selbst. Es ist unbestritten, dass eine derartige Forschung gegen gängige Wissenschaftsstandards verstößt. Denn die Forschungsziele sind hier fest vertraglich vorgegeben, die Unabhängigkeit der Forscher ist vertraglich ausgehebelt und die beteiligten Wissenschaftler sind verpflichtet, die Forschungsziele experimentell nachzuweisen.
Ab Mitte der 1990er-Jahre wurde bekannt, dass der Tabakkonsum auch noch suchterregend sei [2]. Wie kam die Vertuschung der Tabakindustrie ans Licht? Der Whistleblower, J. Wigand, F&E-Leiter beim Tabakunternehmen Brown & Williamson (B&W), einer Tochter von BAT, bekam Skrupel und gab 1996 in einer CBS-Sendung bekannt, dass B&W die Nikotinstärke seiner Produkte vorsätzlich erhöht und Karzinogene hinzugefügt hatte, ohne die Kunden geschweige denn die Öffentlichkeit darüber zu informieren [4]. Das Motiv, Zusatzstoffe beizumischen, war einzig darauf angelegt, die Kundenbindung der Raucher zu stärken und damit den Profit der Unternehmen langfristig abzusichern. Gesundheitliche Risiken wurden ausgeblendet.
Beide Fälle wurden erst durch Whistleblower aufgeklärt, neben der Kronzeugenregelung ein wichtiges „Instrumentarium“ der forensischen Kriminalistik. Die strikte Geheimhaltung von Dokumenten durch den Auftraggeber, hier durch die Tabakindustrie, zu den Vorgaben, Absprachen und Hintergründen derartiger Auftragsforschung, macht den Mangel an Daten und Informationen und folglich die Schwierigkeit des Nachweises von Fake Science durch numerische Datenanalytik deutlich. Anders als in Fällen, wo Big Data vorliegt und maschinelle Lernverfahren sich einsetzen lassen, sind in Betrugs- oder Manipulationsfällen wie hier diese Verfahren nicht anwendbar. Denn das Missing-Data-Problem ist systemisch.
Wie wir noch sehen werden, stellen die Kampagnen der US-Tabakindustrie nicht Ausnahmefälle dar, sondern reihen sich in eine Vielzahl von Forschungen ein, deren Ziel es ausschließlich ist, erzielten wissenschaftlichen Konsens in gesundheitlichen und umweltpolitischen Fragen in Abrede zu stellen. Hier kommt die Agnotologie ins Spiel, die Lehre vom Nichtwissen. Wie die oben geschilderten Fälle deutlich machen, kann Nichtwissen aktiv produziert werden und kommt damit der Ignoranz nahe [1]. Statt Sokrates mit: „ich weiß, dass ich nichts weiß“, zu zitieren, denn damit wäre sein Wort aus dem wahren Zusammenhang gerissen, sei der Hinweis auf die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes gestattet, die auf breiter Front und seit Langem die nicht ergebnisoffene Forschung von Wissenschaftlern anprangert und auf Unredlichkeiten verwiesen hat [5]. Denn wahre Forschung im Sinn von „rerum cognoscere causas“, die auf Erkenntnisgewinn abzielt, sollte als Grundlagenforschung Hypothesen-basiert sein und auf Experimenten oder gegebenenfalls auf geplanten Beobachtungsstudien basieren, deren Forschungshypothesen grundsätzlich falsifizierbar sein müssen, siehe das Popper-Kriterium. Das Publizieren der Forschungsergebnisse dient dabei nicht nur dem Wissenstransfer zur Wirtschaft, dem Diskurs zwischen Forschern sowie der Konfrontation mit anderen Lehrmeinungen, sondern auch der Nachprüfbarkeit der Forschungsergebnisse in der Öffentlichkeit. In jedem Fall müssen Forschungsstudien die Prinzipien von Wiederholbarkeit und Nachprüfbarkeit erfüllen. Dabei sind die Aufzeichnungen in Laborbüchern über Mitarbeiter und Messungen, die Zielsetzungen, benutzten Methoden und eingesetzten Gerätschaften essentiell, um die Wahrheitstreue (Veritas) der empirischen Forschung im Nachhinein überprüfen zu können.
Wenden wir uns nun einem weiteren Fall von manipulierter Auftragsforschung in der Industrie zu. Denn nicht nur die Tabakindustrie setzte derartige „abartige“ Auftragsforschung gezielt ein. Seit 2007 wird über das teilweise massenhafte Sterben der (wildlebenden) Honigbiene immer wieder berichtet, nicht nur in Griechenland, sondern überall auf der Welt [6]. Seit den 2000er-Jahren ist es gesicherte Erkenntnis, dass das Pestizid Neonikotine, das die Pharmaindustrie herstellt, für Bienen toxisch ist [1]. Trotzdem wird nach wie vor von interessierter Seite der kausale Zusammenhang zwischen Pestizideinsatz und Bienensterben durch eine Flut von Studien angezweifelt. Dabei kommt neben der chemischen Industrie die Landwirtschaft mit ins Spiel, die die sog. Pflanzenschutzmittel einsetzt. Als alternative Einflussgrößen werden ins Feld geführt: die Zerstörung von Lebensräumen der Insekten, eingeschleppte Parasiten, die asiatische Hornisse, Viren, Krankheiten, Monokulturen in der Landwirtschaft, der Einsatz sonstiger Pestizide und andere Umweltbelastungen (siehe [6]). Eine Folge der Studienflut ist damit, dass bis heute kein Konsens hinsichtlich einer eindeutigen Ursache möglich ist.
Wie auch der folgende Fall zeigt, spielen Grenzwerte von Einflussgrößen bei der Risikobewertung eine zentrale Rolle. Sie führen zu Interessenkollision zwischen Handel, Industrie und Wissenschaft. Statt mit Tabak oder Pestiziden haben wir es nun mit einem chemischen Stoff zu tun, dem Weichmacher Bisphenol A, kurz BPA, der zur Herstellung von vielerlei Kunststoffen, wie beispielsweise von Getränkeflaschen aus Plastik, dient und damit aus dem täglichen Leben kaum wegzudenken ist. Wie ARTE ausführlich berichtete [1], war Ausgangspunkt der Affäre das Phänomen, warum sich in unerklärlicher Weise in medizinisch-biologischen Laborexperimenten Krebszellen in den dabei benutzten Zentrifugenröhrchen fanden und wuchsen [7]. Die beiden Forscher, die Biologin A. Soto und der Mediziner C. Sonnenschein, waren sich eines möglichen Kausalzusammenhangs zwischen Röhrchen und Krebszellenwachstum sicher. Denn sie hatten einen Dritteinfluss in alle denkbaren Richtungen überprüft und ausschließen können. Der Schlüssel zur Aufklärung lag im Material der Röhrchen, das Bisphenol A enthielt [1]. BPA hat die gleiche Molekularstruktur wie das Sexualhormon Östrogen. Von Versuchen mit Mäusen war bekannt, dass das Hormon die Prostata vergrößern und Spermienproduktion senken kann. Hier nun kommen die klassische Toxikologie und die Plastik verarbeitende Industrie ins Spiel. Beide stimmen überein, dass das Krebsrisiko proportional zur aufgenommenen Menge Weichmacher ist und dass das Risiko unterhalb eines kritischen Schwellenwerts – wie auch immer festgelegt! – unproblematisch wäre. Während sich die klassische Toxikologie mit sehr großen Mengen von Schadstoffen befasst, stand nunmehr mit den Entdeckungen von Soto und Sonnenschein die Schädlichkeit von BPA bei geringst möglichen Mengen im Vordergrund [1].
Interessant ist nun, wie die Kunststoffindustrie auf diese toxikologischen Befunde reagierte. Trickreich wurde versucht, nachzuweisen, dass niedrige Dosen nicht schädlich sein können. Dazu gab der American Plastics Council eine Studie in Auftrag, den Gray et al., Harvard Center for Risk Analysis, durchführten [10]. Die Autoren bestätigten die vorgegebene Hypothese, dass „The weight of the evidence for low-dose effects is very weak“ [9]. Allerdings beschränkte sich diese Review-Studie auf nur 19 ausgewählte Studienfälle, obwohl weit mehr zur Verfügung standen, wie sich später herausstellte [9]. Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier eine systematische Auswahl eine Rolle spielte, deren Stichprobenverzerrung (Sampling-Bias) durchaus gewollt war. Ein Gegenreview, ebenfalls eine sog. Metastudie, also eine Übersicht über Studien Dritter ohne eine eigene Feldstudie mit Versuchs- und Kontrollgruppe, die die Biologen vom Saal und Hughes in 2004 durchführten, ausgelegt auf Gering-Dosis-Effekte, verwies auf einen signifikanten Effekt in rund 82 % der insgesamt 115 Studienfällen [8]. Auf gewisse Einschränkungen in diesem Studienergebnis bei jedoch gleichzeitiger Bestätigung der Kernaussage eines erhöhtes Sterberisikos verwies Politsch [9]. Eine weitere in Auftrag gegebene experimentelle Studie der Kunststoffindustrie zur Untermauerung der These, dass niedrigdosierter Einsatz von BPA unschädlich sei, zeigte keine signifikanten Effekte. Konnte sie auch nicht, da spezielle Ratten und Mäuse für die Versuche selektiert wurden, denen Fettleibigkeit und hoher Östrogenspiegel zuvor angezüchtet waren [1]. Abschließend sei angemerkt, dass Belgien, Dänemark, Frankreich und andere europäische sowie nordamerikanische Länder inzwischen entsprechende Verbote unter anderem für Kinder unter 3 Jahren ausgesprochen haben [6].
Weitere Beispiele für den Missbrauch bzw. die Fragwürdigkeit wissenschaftlicher Forschung, motiviert durch Geschäftsinteressen der Industrie und letztlich auch der beteiligten Wissenschaftler, lassen sich beliebig fortführen. Man denke nur an Dieselautos, die Stickoxide emittieren und für Krebs und Lungenerkrankungen mit hoher Wahrscheinlichkeit mitverantwortlich sind, Asbest und Lungenkrankheit, Radon und Krebs, FCKW und das steigende Ozonloch, ganz zu schweigen vom Unkrautvernichter Roundup, der Glyphosat enthält, das im starken Verdacht steht, für Lungen- und Krebserkrankungen ursächlich zu sein.
Eine gewisse Raffinesse oder Chuzpe kann man folgender Kampagne nicht abstreiten. Nach der Umweltkonferenz von Rio sah sich die Industrie mehr als zuvor gezwungen, sich dem Umweltschutz zu stellen. Die Umstellung auf umweltfreundliche Herstellprozesse ist aber erfahrungsgemäß anfangs und mittelfristig nicht billig. Eine ihrer Aktionen war der Heidelberger Aufruf von 1992, der scheinbar zur Unterstützung der Ergebnisse von Rio aufrief, sich geschlossen gegen jede Art von Ideologie beim wissenschaftlichen Fortschritt zum Umweltschutz zu stellen und wissenschaftliche Vernunft gegen Fanatiker zu setzen. Dem Aufruf folgten etliche deutsche Wissenschaftler gutgläubig, darunter auch Nobelpreisträger [1]. Dumm nur, dass die Asbestindustrie der Auftraggeber war und schlicht Freiraum für ihre Art der Auftragsforschung schaffen wollte.
Beängstigend empfindet der Autor dieser Glosse die Rolle, welche die sozialen Netze beim Leugnen, Manipulieren und Verbreiten von Pseudowissen hierbei zunehmend spielen. Die Corona- und sog. Klimaleugner sind dabei weltweit nur eine von vielen Aktivisten. Das Manipulieren der öffentlichen Meinung durch schneeballartiges Verbreiten von Aussagen der Fake Science Community nimmt einen bedenklichen Umfang im gesellschaftlich-politischen Raum ein, vergleichbar zu Fake News und „alternativen Fakten“.
Wenden wir uns nun den anderen Spielarten von Fake Science zu. Wie kann man in Zeiten, wo der akademische Nachwuchs unter erheblichem Leistungsdruck steht – der Slogan „publish or perish“ drückt das deutlich aus –, mühelos Studienautor werden, in Journalen ohne viel Aufwand, gegebenenfalls ohne viel Fachkenntnisse veröffentlichen, international sogar fragwürdige Paper auf Tagungen vortragen und in Proceedings unterbringen? Fake-Verlage, Fake-Journale und Fake-Konferenzen sind die Lösung. Wie auf diesem Hintergrund der Wissenschaftsbetrieb pervertiert werden kann, führten die TV-Autoren Eckert und Hornung in der ARD-Sendung „Fake Science – Die Lügenmacher“ vor [11]. Sie reichten bei dem Pseudo-Verlag SCI Pub (Science Publication) eine Studie ein, die allein schon auf den ersten Blick erkennbaren computergenerierten Unsinn unter dem Titel „Highly available, collaborative, trainable communication – a policyneutral approach“ enthielt. SCI Pub gibt vor, 33 Journale zu betreuen, die mehr als 10.000 Studien enthalten ([11], vgl. deren Website https://​thescipub.​com). Gegen Zahlung von 85 Euro wurde die Arbeit der beiden Autoren erwartungsgemäß akzeptiert. SCI Pub ist bei Weitem nicht der einzige Pseudoverlag, weitere sind WASET, IDSR, OMICS, Science Domain und andere. Diesen Verlagen ist gemein, dass sie das Mäntelchen der Wissenschaftlichkeit umhängen und einen Begutachtungsprozess (Peer Review) vorgaukeln, der möglicher Weise von einigen Autoren gar nicht gewollt sein könnte [12]. Die beiden Autoren trieben ihre Recherche noch auf die Spitze, indem sie bei WASET – Kürzel für World Agency of Science and Technology – einen ebenso unsinnigen Vortrag zu deren internationaler Fachkonferenz in London einreichten. WASET veranstaltet derartige Konferenzen weltweit, beispielsweise in Berlin oder New York. Die Tagungsgebühr liegt bei 450 Euro [1]. So verwundert es nicht, dass, nachdem die dreistellige Konferenzgebühr bezahlt war, der Vortrag in wenigen Tagen akzeptiert, ein Reviewprozess behauptet und der Beitrag im Konferenzband abgedruckt wurde. Schätzt man die Einnahmen solcher maximal 3‑Tages-Konferenzen mit – sagen wir einmal – insgesamt 50 Teilnehmern grob ab, kommt man locker auf 23.000 Euro [11]. „Pecunia non olet“, wussten schon die Römer. So berichtet A. S. Chawla immerhin in „Science“, dass solche „Papierfabriken“ wie „International Publisher LLC“, dahinter steht die Website www.123mi.ru, es ermöglichen, den eigenen Namen über Forschungsarbeiten in renommierten Journalen zu setzen und damit den eigenen Lebenslauf aufzupeppen [16].
Kommen wir auf die gefakten Tagungen zurück. Deren Erscheinungsbild weist fest folgende Charakteristika auf: ein einziger Konferenzraum im Hotel mit wohl bekannter Firma, oben war es das Holiday Inn, touristisch interessanter Konferenzort, der verkehrsmäßig gut angebunden ist wie London, kurze Homepage mit Blickfang („Eyecatcher“) vorneweg, oft keine Liste der Vortragstitel, kein oder nur ein Alibi-Programmkomitee mit einem „Zugpferd“, keine Parallelsitzungen, keine Sponsoren, nur Vortragende als einzige Zuhörer in den Sessions und ein fachfremder Sitzungsleiter, der zugleich Organisator und Mann für alles ist [11]. Im Tagungsprogramm fehlen die Zeitfenster für Diskussionen, wie es für wissenschaftliche Konferenzen oder Workshops allgemein üblich ist. Das brauchen die meisten Teilnehmer solcher Pseudokonferenzen vermutlich auch nicht. Dies sind Alleinstellungsmerkmale, also trennscharfe Klassifikationsmerkmale, die es erleichtern, Pseudokonferenzen als solche zu identifizieren.
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob gegen diese Geschäftsmodelle kein Kraut gewachsen ist. Denn Recherchen von NDR, WDR und dem Magazin der Süddeutschen Zeitung belegen [1, 11], dass der Zulauf zu Fake-Konferenzen und Fake-Journalen, hinter Letzteren stehen einige wenige sog. Raubverlage, nicht unerheblich ist. So sind lt. Recherche Wissenschaftler überall im 6‑stelligen Bereich aktiv, sei es als schwarzes Schaf oder ahnungslos, und rund 100 Universitäten sind betroffen, deren Wissenschaftler bei Fake-Verlagen unbewusst oder vorsätzlich publizierten. Zu diesem Kreis rechnen in Deutschland nicht nur die TU München, die Charité Berlin, die Fraunhofer Gesellschaft, die Uni Hannover [11]. Ob diese Zahlen für Deutschland übertrieben hoch sind, wie von Pössel [15] empirisch auf Stichprobenbasis untersucht, ist meines Wissens nicht so entscheidend. Vielmehr ist die „dominante Kraft des Faktischen“ zur Kenntnis zu nehmen, dass Fake-Tagungen und -Journale existieren, diese nach wie vor Redner und Autoren anziehen und wissenschaftlichen Anspruch nur vortäuschen. Angesetzt werden muss deshalb innerhalb und außerhalb der Wissenschaft, um solche Täuschungen nachhaltig zu bekämpfen. Die Wirtschaft ist in den 1990er-Jahren mit Fragen zur Unternehmensethik vorgeprescht und hat den Weg zu Compliance-Beauftragten freigemacht. Analog müssen die Unis und andere Forschungseinrichtungen dem akademischen Nachwuchs unter ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen vermitteln, wie wiederholbare und reproduzierbare Forschung funktioniert [13]. Dazu gehört auch, diese zu unterstützen, Pseudotagungen und Journale leichter zu erkennen, um eine Teilnahme von Anfang an zu vermeiden oder zu verhindern. Aber auch die Universitäten, die nationalen Forschungseinrichtungen wie Leibniz- und Helmholtz-Zentren und die Deutsche Forschungsgemeinschaft sollten in dieser Richtung aktiv bleiben oder werden. Auf keinen Fall sollten Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen, die beabsichtigen, sich an Fake-Tagungen zu beteiligen, die Tagungs- und Reisekosten erstattet werden. So wurde anfangs vorgeschlagen, schwarze Listen von Journalen zu führen, in denen Mitarbeiter aus den genannten Organisationen nicht publizieren dürfen [14]. Da sich „Raubjournale“ schnell an geänderte Lagen anzupassen pflegen, den Namen usw. einfach ändern, übrigens wie auch die Fake-Konferenzen es tun, und solche Listen hierzulande rechtlich mit der im Grundgesetz garantierten Freiheit der Wissenschaft kollidieren, sind schwarze Listen unzweckmäßig. Alternativ werden „Whitelists“ oder „Top Ten Lists“ vorgeschlagen [15]. Dieser Weg scheint als flankierende Maßnahme zur internen („inhouse“) wissenschaftlichen Qualitätsforschung mit ihren Vorgaben für korrekte Forschung erfolgversprechend zu sein. Allerdings ist die Abgrenzung, ob jenseits der „Ten“ schon der Graubereich beginnt, sehr subjektiv. In der Diskussion um solche Open-Access- und Publikationsmodelle ist das in Schweden geführte „Directory of Open Access Journals“ seit Langem Vorreiter, zumal es spendenfinanziert und damit wirtschaftsunabhängig ist [14]. Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen sollten in Berufungsverfahren darauf achten, dass Publikationen, die in Fake-Journalen und in Proceedings von Fake-Konferenzen erschienen, in den Schriftenverzeichnissen von Bewerbern identifiziert und nicht gewertet werden. Dies geschieht zwar „etwas spät“, ist eben nur eine Feuerwehrstrategie. Besser wäre eine vorsorgende Aufklärung wie oben beschrieben. Für Charité und Delbrück Zentrum in Berlin steht dazu das bereits vor 5 Jahren vom Neurologen Ulrich Dirnagl gegründete „Quest-Center für die Transformation der Biomedizinischen Forschung“ zur Verfügung.
Da der Autor dieser Glosse nach wie vor ein entschlossener Verfechter von Glaubwürdigkeit (Trustworthiness) im Wissenschaftsbereich ist, kann er – mit gewissem Augenzwinkern – mit den Worten des ehemaligen amerikanischen Präsidenten, Harry S. Truman, schließen: „If you can’t convince them, confuse them.“
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat ARTE (2021). Forschung, Fake und faule Tricks, 23. Febr. 2021, 21:40 ARTE (2021). Forschung, Fake und faule Tricks, 23. Febr. 2021, 21:40
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Zurück zum Zitat Wikipedia, Stichwort „Jeffrey Wigand“ (Abruf: 23. Febr. 2021) Wikipedia, Stichwort „Jeffrey Wigand“ (Abruf: 23. Febr. 2021)
3.
Zurück zum Zitat GmbH PM (2021) Die Verbrennung, nicht Nikotin, ist die Hauptursache für rauchbedingte Krankheiten. Eine Informationskampagne der Philip Morris GmbH. was-raucher-wissen-sollten.de. Zugegriffen: 15. Dez. 2022 (weiterhin: Zeitungsanzeige in TV direkt, Dez. 2021) GmbH PM (2021) Die Verbrennung, nicht Nikotin, ist die Hauptursache für rauchbedingte Krankheiten. Eine Informationskampagne der Philip Morris GmbH. was-raucher-wissen-sollten.de. Zugegriffen: 15. Dez. 2022 (weiterhin: Zeitungsanzeige in TV direkt, Dez. 2021)
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Zurück zum Zitat Spiewak, M. (2017). Journale im Zwielicht. Die Zeit, Nr. 11, S. 29 Spiewak, M. (2017). Journale im Zwielicht. Die Zeit, Nr. 11, S. 29
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Zurück zum Zitat Friebe, R. (2018). Erst analysieren, dann publizieren, Der Tagesspiegel, 03.08.2018, Nr. 23548, S.25 Friebe, R. (2018). Erst analysieren, dann publizieren, Der Tagesspiegel, 03.08.2018, Nr. 23548, S.25
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Zurück zum Zitat Pössel, M. (2018). Ein bisschen Entwarnung, Der Tagesspiegel, 3. Aug. 2018 Pössel, M. (2018). Ein bisschen Entwarnung, Der Tagesspiegel, 3. Aug. 2018
16.
Zurück zum Zitat Chawla, A. S. (2022). Mühelos Studienautor werden, Süddeutsche Zeitung, Nr. 94, 2022, S.14 Chawla, A. S. (2022). Mühelos Studienautor werden, Süddeutsche Zeitung, Nr. 94, 2022, S.14
Metadaten
Titel
Fake Science – zwielichtige Wissenschaft
verfasst von
Hans-J. Lenz
Publikationsdatum
12.04.2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Informatik Spektrum / Ausgabe 2/2023
Print ISSN: 0170-6012
Elektronische ISSN: 1432-122X
DOI
https://doi.org/10.1007/s00287-023-01535-x

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