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Erschienen in: Wirtschaftsinformatik & Management 6/2022

Open Access 17.10.2022 | Schwerpunkt

Digitale Avatare = humanoide Phantome?

verfasst von: Prof. Dr.-Ing. Armin Grasnick

Erschienen in: Wirtschaftsinformatik & Management | Ausgabe 6/2022

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Wenn es nach dem Willen der Industrie geht, wird das Metaversum schon in naher Zukunft Realität sein. Mit der Nutzung virtueller Begegnungsstätten und der damit verbundenen Notwendigkeit zur Interaktion digitaler Charaktere werden auch Avatare eine zunehmende Selbstverständlichkeit. Dabei wird üblicherweise ohne Weiteres angenommen, dass ein Avatar der steuernden Person bis zu einem gewissen Maße ähnelt. Allerdings ist die Ähnlichkeit zum Bediener keine aus der Funktion ableitbare Forderung. Es sind Szenarien vorstellbar, in denen der Avatar zur Erfüllung seiner digitalen Mission anders als ein Mensch funktionieren darf oder sogar muss. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, welche grundlegenden Eigenschaften ein Avatar aufzuweisen hat und wie sich diese beschreiben lassen. Da der Avatar im Metaverse mit anderen Avataren interagieren kann, wird sich auch sein Verhalten den Regeln des jeweiligen virtuellen Raumes (dem Intraverse1) unterwerfen müssen. Diese Regeln dürfen nicht im Widerspruch zu anerkannten gesellschaftlichen Normen stehen.
Zusammenfassung
  • Avatare können in den unterschiedlichsten Gestalten auftreten. Daher wird eine Morphologie der Avatare vorgeschlagen, die den Nutzern des Metaversums die allgemeingültige und betreiberunabhängige Beschreibung der Gestalt von Avataren ermöglicht.
  • Die Funktionen von Avataren sind vom jeweiligen Intraverse abhängig. Durch eine übergreifende Klassifikation haben die Nutzer eine einfache und direkte Vergleichsmöglichkeit zum Funktionsumfang verschiedener Intraversen.
  • Der Wirtschaftsraum Metaverse wird maßgeblich von marktwirtschaftlichen Prinzipien geprägt. Da die Avatare im Metaverse sozial miteinander interagieren, müssen gesellschaftliche Konventionen gewahrt bleiben.

Morphologie der Avatare

Die Bezeichnung „Avatar“ wird gewöhnlich für die virtuelle Verkörperung realer Personen verwendet. Hier wird häufig Stephensons Interpretation eines Avatars benutzt [1], bei der ein Avatar die mehr oder minder gelungene Version einer digitalen Darstellung im Metaverse ist. In Stephensons Metaverse tauchen die Avatare als willentlich erzeugte (oder gekaufte) 3D-Modelle in menschenähnlicher oder abstruser, in jeder erdenklichen (oder erschwinglichen) Form, auf. Stephenson ist jedoch nicht der Schöpfer des Begriffes. Die ursprüngliche Bedeutung eines Avatars in der hinduistischen Religion geht über das Darstellende hinaus und meint den göttlichen Herabstieg. Hier repräsentiert ein Avatar nicht die Inkarnation realer Personen, sondern die der göttlichen Manifestationen. Die Idee der Avatare taucht in einem der wichtigsten hinduistischen Sanskrit-Texte des antiken Indiens auf. Im „Mahabharata“2 [2], das dem mythischen Autor Vyasa zugesprochen wird, erscheint Vishnu und beschreibt die verschiedenen Tiere und Menschen, in denen er erscheinen kann. Dem Weisen Vyasa wird durch die ihm zugeschriebenen Veröffentlichungen eine Lebensspanne von ca. 500 v. Chr.–1000 n. Chr. zugebilligt. Insofern ist auch hier keine reale Person gemeint, sondern eine jeweils mit göttlichem, spirituellem Auftrag ausgestattete Inkarnation – demnach ebenfalls ein Avatar.
Die altindischen Avatare unterschieden sich von den heutigen. Sie bildeten eigene Persönlichkeiten und führten ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben – natürlich im Rahmen, der von der jeweiligen Manifestation vorgesehen war. Diese indirekte Steuerung wurde von Gautier in seinem Roman „Avatar“ [3] im 19. Jahrhundert durch einen Seelentausch in eine direkte Steuerung verwandelt. Hier übernimmt die Seele unmittelbar einen anderen Körper und wird – zumindest der Erscheinung nach – zu dieser Person. Der Avatar wird nun von der Intelligenz des Übernehmenden kontrolliert und verfügt damit nicht über eigene Intelligenz, obgleich diese ihm innewohnt.
Wenn wir uns nun die Frage stellen, ob ein computergenerierter Avatar in der virtuellen Realität überhaupt eine (künstliche) Intelligenz besitzen kann, ist der VR-Veteran Lanier ein guter Einstieg. Lanier behauptet, die virtuelle Realität (VR) sei das Inverse der künstlichen Intelligenz (KI): VR=−KI [4, S. 351]. Es wird sicher nicht funktionieren, eine künstliche Intelligenz durch einen invertierten Avatar zu erzeugen. Die prinzipielle Idee wird jedoch klar. Ein virtueller Avatar ist ein von natürlicher Intelligenz designtes und gesteuertes Objekt, während die künstliche Intelligenz keine fremde Steuerung (und nicht einmal einen virtuellen Körper) benötigt. Eine KI würde wohl auch weniger von einer VR-Brille oder sozialer Interaktion im Metaverse profitieren.
Wenn aber der Avatar nicht durch einen Menschen gesteuert wird, sondern an einem vereinfachten Menschmodell (etwa an einem „Model Human Processor“ [5]) angeschlossen ist, kann bei ausreichender Informationsgewinnung durch den Avatar, das Menschmodell selbst von einer künstlichen Intelligenz gesteuert werden. Das Menschmodell tritt dabei als Mittler zwischen Avatar und KI auf. In einfacher Form erfolgt das schon beim „Natural Language Processing“, bei dem die KI die Stimme, Mimik und Bewegungen des Avatars kontrolliert.
Der Avatar, der gemeinhin als grafische Darstellung betrachtet wird, ist im virtuellen Raum des Metaverse keine Figur, sondern ein aus Daten und Protokollen generiertes Konstrukt. Die grafische Darstellung erfolgt erst durch den Prozess des Rendering in einem konkreten Intraverse.
Aus der Tatsache, dass ein Avatar immer ein virtuelles Konstrukt ist, leitet sich ohne Weiteres ab, dass dieser nicht zwingend menschenähnlich sein muss. Abhängig von der Aufgabe und der Umgebung, in der der Avatar funktionsfähig sein muss, können sich unterschiedliche grafische und kinematische Anforderungen ergeben. Ein MetaHuman-Avatar der Unreal Engine kann durchaus sehr realistisch wirken. Ein MetaHuman ist eine humanoide Nachbildung, ein Avatar muss das jedoch nicht sein. Sowohl in der Mythologie als auch aus Comics, Filmen oder Spielen sind virtuelle Mischwesen (Chimären) bekannt, die sich aus menschenähnlichen (anthropomorph), tierähnlichen (zoomorph) oder pflanzenähnlichen (phytomorph) Figuren zusammensetzen. Diese Gestaltähnlichkeit zu Lebendigem (biotisch) kann durch Ähnlichkeiten zu leblosen Dingen (abiotisch) ergänzt oder ersetzt werden. Naturähnliche Dinge (physiomorph), wie Steine, Wasser oder Luft, können in der virtuellen Realität durchaus zur Repräsentation von Avataren genutzt werden – wie bei diversen Elementarwesen des Marvel-Universums. Das gilt aber vor allem auch für künstliche (technomorphe) Objekte, die im Cyberspace auch funktionierende Maschinen repräsentieren können. Die Unterteilung in fünf Hauptgruppen soll eine übersichtliche Beschreibung von Avataren anhand morphologischer Merkmale ermöglichen.
Abb. 1 zeigt eine mögliche morphologische Kategorisierung eines Avatars in biotischer oder abiotischer Gestalt.
Dabei muss die Zusammensetzung des Avatars nicht binär (biotisch oder abiotisch) sein. Möglich wäre auch eine prozentuale Verteilung. Wenn die jeweiligen Prozentsätze mit a und b bezeichnet werden, dann ergibt sich die Gestalt des Avatars A als gewichtete Summe der beiden Gestaltanteile: \(A=b\cdot G_{\mathrm{bio}}+a\cdot G_{\mathrm{abio}}\). Dabei gilt sinnvollerweise a+b=1. Ein Avatar setzt sich also zu 100 % aus der Menge belebter und unbelebter Gestalt zusammen und kann folglich damit prinzipiell als überwiegend belebt oder überwiegend unbelebt kategorisiert werden. Zur Bestimmung der belebten und unbelebten Gestalt lassen sich die oben genannten morphologischen Merkmale nutzen. Eine belebte Gestalt ist aus anthropomorphen, zoomorphen und phytomorphen Anteilen zusammengesetzt. Damit lässt sich schreiben \(G_{\mathrm{bio}}=\alpha \cdot m_{\alpha }+\zeta \cdot m_{\zeta }+\varpi \cdot m_{\varpi }\), wobei auch hier gilt: \(\alpha +\zeta +\varpi =1\).
Analog ist die Zusammensetzung der abiotischen Gestalt, die nur aus physiomorphen und technomorphen Anteilen besteht.
$$G_{\mathrm{abio}}=\beta \cdot m_{\beta }+\tau \cdot m_{\tau }\left(\mathrm{mit}\beta +\tau =1\right).$$
Damit kann der Avatar nun allein durch seine gewichteten morphologischen Merkmale beschrieben werden.
$$A=b\left(\alpha \cdot m_{\alpha }+\zeta \cdot m_{\zeta }+\varpi \cdot m_{\varpi }\right)+a\left(\beta \cdot m_{\beta }+\tau \cdot m_{\tau }\right)$$
Wenn beispielsweise der Avatar von Jack Sully aus dem gleichnamigen Film „Avatar“ [6] (stellvertretend für die Na’vi-Charaktere im Spiel [7]) charakterisiert werden soll, dann finden sich hauptsächlich menschenähnliche und weniger tierähnliche Merkmale. Damit könnte man definieren α=0,8, ζ=0,2 und ϖ=0. Der Avatar ist zweifellos von belebter Gestalt, sodass hier von einem biotischen Avatar mit 80 % anthropomorphen und 20 % zoomorphen Merkmalen gesprochen werden kann. Vereinfacht könnte die Bezeichnung „anthropomorph-biotischer Avatar“ verwendet werden.

Avatarisches System

Beil und Rauscher bezeichnen den Avatar recht treffend als „Fusion aus Interface-Element und fiktionaler Instanz“ [8, S. 201], womit hier die Verbindung zwischen Avatar, dessen Habitat und der kontrollierenden Instanz gemeint sein soll. Dieses Interface wird nicht von denen festgelegt, die den Avatar gestaltet haben oder ihn bedienen. Die Funktionsweise eines Avatars im Untersystem des Metaverse, dem jeweiligen Intraverse, wird über die konkrete technische Ausgestaltung des Intraverse-Systems festgelegt. Unabhängig von der verwendeten Laufzeitumgebung oder Spiele-Engine kann dieses (avatarische) System über vier Klassen festgelegt werden:
  • Manifestation
  • Sensorik
  • Aktorik
  • Identität

Manifestation

Zur Manifestation eines Avatars gehört offensichtlich dessen Gestalt, die sich anhand der bereits erläuterten Morphologie beschreiben und über die virtuell physikalischen Eigenschaften realisieren lässt. Für die Sichtbarkeit sind neben der Beschaffenheit des 3‑D-Modells vor allem die Oberflächenmaterialien für Haut, Bekleidung oder Haare entscheidend. Von größer Wichtigkeit ist dabei die Interaktion mit Lichtquellen, die Erzeugung von Reflexionen und Schatten. Für überzeugenden Realismus wird dazu „Physically Based Rendering“ eingesetzt.
Die Klasse der Manifestation wird als KM bezeichnet. Eine absolut realistische Manifestation hätte den Wert 1, ein vollständig abstraktes Gebilde den Wert 0.

Sensorik

Unter Sensorik sollen die Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Avatars verstanden werden.
Üblicherweise (aber nicht zwingend) wird die Bedienung des Avatars direkt vom Menschen übernommen. Die Informationen, die vom realen Bediener via Avatar empfangen werden, können also nur über die Sinne des realen Individuums verarbeitet werden. Grundsätzlich muss der Avatar die jeweiligen Informationskanäle aufzeichnen und weiterleiten können. Im Allgemeinen sind das die fünf klassischen Sinne, wie sie schon von Aristoteles beschrieben wurden. Das sind Gesicht (visuell), Gehör (akustisch), Geruch (olfaktorisch), Geschmack (gustatorisch) und schließlich Gefühl (haptisch). Die einzelnen Sinne (Kanäle) müssen in dieser Klasse gewichtet werden, wobei üblicherweise ein Ranking von hoch- nach niederwertig erfolgt (beispielsweise 1. visuell, 2. akustisch, 3. haptisch, 4. olfaktorisch, 5 gustatorisch). Diese Stellenwerte sind nicht festgelegt, sondern können je nach Kultur unterschiedlich sein [9]. Heute wird dazu noch die Wahrnehmung der eigenen Lage und Bewegung (Propriozeption) sowie die Wahrnehmung von körperlichen Grundbedürfnissen (Viszerozeption) gezählt. Avatare haben zwar keine Bedürfnisse nach Atmung, Wärme, Nahrung oder Ruhe, aber auch hier sind Anwendungen vorstellbar, in denen die Kenntnis avatarischer Grundbedürfnisse sinnvoll wäre. Die Sinne des Avatars müssen vom System des Intraverse unterstützt werden.
Die Klasse der Sensorik wird als KS bezeichnet. Eine vollständige Sensorik hätte den Wert 1, ein Avatar ohne jegliche Sensorik den Wert 0.

Aktorik

Unter Aktorik sollen diejenigen Funktionen des Avatars zusammengefasst werden, die im jeweiligen Intraverse physikadäquate Reaktionen hervorrufen. Diese können mechanischer Natur sein (zum Beispiel Greifen), optische Veränderungen signalisieren (zum Beispiel Mimik) oder auch akustische Übertragungen (zum Beispiel Sprache) ermöglichen. Dabei sind auch diejenigen Funktionen möglich, die im Intraverse mittels Sensorik erfasst werden können. Natürlich zählen zur Rubrik „Aktorik“ auch Bewegung und mögliche Reichweite des Avatars. Weniger offensichtlich ist die notwendige Behandlung von Kollisionen und anderen „physikalischen“ Funktionen im Intraverse. Für die Aktorik ist ein Interface zum Steuernden notwendig, um die Aktionen möglichst vollständig auf den Avatar zu übertragen.
Die Klasse der Aktorik wird als KA bezeichnet. Eine vollständige Aktorik hätte den Wert 1, ein Objekt, welches keinerlei Aktorik aufweist und nicht einmal kollidieren kann, den Wert 0.

Identität

Wie erläutert, muss ein Avatar der steuernden Person nicht im Geringsten ähnlich sehen. Allerdings wird es in Abhängigkeit des jeweiligen Intraverse und der dort durchführbaren Aktionen (oder Transaktionen) auch immer die Forderung nach der Hinterlegung der wahren Identität des Steuernden geben. Das ist besonders dann von Bedeutung, wenn bestimmte Handlungen nur von definierten Personen ausgeführt werden dürfen und sich der Avatar dafür „ausweisen“ muss.
Die Klasse der Identität wird als KI bezeichnet. Eine vollständige Identität hätte den Wert 1, ein vollständig „maskierter“ Avatar den Wert 0.

Darstellung der Klassen

Es wird vielleicht notwendig sein, alle vier avatarischen Klassen gleichzeitig darzustellen. Dafür bietet sich ein 3‑D-Diagramm an, in dem zunächst die Klassen den Achsen farbig zugeordnet sind (siehe Abb. 2), hier Manifestation (blau), Sensorik (grün) und Aktorik (rot).
Je nach Ausprägungsgrad der jeweiligen Klasse ergäbe sich ein Wert zwischen 0 und 100 % der Farbe.
$$\mathrm{RGB}_{A}=\left(R\cdot K_{A}{,}G\cdot K_{S}{,}B\cdot K_{M}\right)$$
Wären alle drei Werte zu 100 % maximal ausgeprägt, hätte man hier das theoretische Maximum. Im RGB-Farbmodell wäre das der „weiße Avatar“. In der aktuellen Praxis ist zu erwarten, dass die Manifestation weiter entwickelt sein wird als die anderen Klassen. Aktorik und Sensorik sind weniger vollständig ausgeprägt, wobei die Sensorik der Aktorik in der Regel überlegen ist.
Die Identität als vierte Dimension ließe sich über die Transparenz der Einzelwerte darstellen. Ein Avatar ohne Identität wäre also „unsichtbar“. Zur Illustration würde sich ein RGB-Bild mit zusätzlichem Alphakanal (Aα) eignen.
$$\mathrm{RGBA}_{A}=\left(R\cdot K_{A}{,}G\cdot K_{S}{,}B\cdot K_{M}{,}A_{\alpha }\cdot K_{I}\right)$$
Diese Form der Darstellung kann auch als Übersicht für Millionen von Avataren verwendet werden. Dazu wird jedem RGBAA-Wert ein Pixel in einem geeigneten Rasterbildformat mit Alphakanal (z. B. PNG) zugewiesen.
Bei einem fiktiven Avatar mit KA=0,3, KS=0,4, KM=0,5 und KI=1 (der Avatar kann sich ausweisen) ergäbe sich ein 8‑Bit-RGB-Farbwert von (77,102,128) – ein mitteldunkles Cyanblau (siehe Datenpunkt in Abb. 2).

Gesellschaft der Avatare

Der Duden nennt als Bedeutungen des Avatars die „grafische Darstellung als Verkörperung des Benutzers im Cyberspace“ oder eine „virtuelle Kunstfigur im Cyberspace“.
Damit wird schon etwas Grundlegendes über das Habitat3des Avatars4 gesagt. Ein Avatar kann nur im Cyberspace gedeihen. Der Cyberspace ist eine Zusammensetzung von Kybernetik und Raum (Space). Der Cyberanteil geht zurück auf den Mathematiker Wiener, der 1948 die Kybernetik als „Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine“ beschrieb. Die Wortschöpfung „Cyberspace“ ist einer literarischen Fiktion von Gibson zu verdanken, der von dieser Bezeichnung regen Gebrauch in seiner Romantrilogie „Neuromancer“ [10] machte. Der Cyberspace Gibsons war noch deutlich abgegrenzter von der Realität als das dystopische Metaverse Stephensons. Heute wird die Bezeichnung „Cyber“ ganz beiläufig für alles verwendet, was sich auf nichtkörperliche, jedoch digitale existente Informationsstrukturen anwenden lässt (zum Beispiel Cyberangriff).
Die allumfassende Metaverse-Konzeption bezieht sich grundsätzlich auf das Virtuelle. Dabei sollen immer mehr reale Lebens- und Geschäftsbereiche in den virtuellen Raum verlagert werden, was eine Goldmine vor allem für diejenigen sein wird, die Nutzerdaten und -verhalten monetarisieren können. So ist es nicht verwunderlich, dass zu den Protagonisten des Metaverse auch Meta selbst (ehemals Facebook) gehört.
Das Buzzword Metaverse suggeriert einen grenzenlosen, über das Internet vernetzten, virtuellen Raum, in dem sich die Avatare der Benutzer frei bewegen, sozial interagieren, länderumspannend arbeiten und natürlich weltweit einkaufen können. Aber das Metaverse existiert so (noch) nicht und auch die zeitliche Erwartung muss gedämpft werden. Der aktuelle Gartner Hype Cycle schätzt für das Metaverse einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren, bevor das Plateau der Produktivität erreicht wird und der Wirtschaftsraum „Metaverse“ profitabel ist.
Der grenzenlose Raum ist tatsächlich begrenzt. Wer heute einen Raum zur virtuellen Interaktion betreibt, tut dies zumeist im Rahmen eines Online-Games oder (seltener) zur Kommunikation. Online-Gemeinschaftsspiele (Massively Multiplayer Online Role-Playing Game), wie zum Beispiel „World of Warcraft“, können Millionen von Mitspielern haben. Es ist derzeit jedoch nicht möglich, seinen Avatar aus dem Spiel eines Anbieters zu dem Spiel eines anderen zu transferieren. Das ist vor allem dann unerfreulich, wenn der Avatar besonders aufwendig gestaltet oder mit kostenpflichtigen Assets ausgestattet wurde – und damit nun selbst einen Vermögenswert darstellt.
Die Spieleplattform hält die „Grenzen“ geschlossen und wird quasi zum „Herrscher“ ihres monopolistischen Intraverse. Sie legt nicht nur die Spielregeln fest, sondern bestimmt auch den Rahmen für die mögliche Gestaltung, Ausstattung und Funktion der Charaktere. Das kann in einem Spiel akzeptabel sein. Bei der Integration weiterer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in den virtuellen Raum (wie von Meta propagiert), wird es notwendig sein, klare Konventionen, Normen und Gesetze festzulegen. Wenn sich aber unterschiedliche Formen interagierender Avatare zusammenfinden (oder gar vernetzt zusammenleben), kann man die Definition von Gesellschaft als erfüllt betrachten. Hier wird deutlich, dass die Ausgestaltung von Gesellschaften nicht die Aufgabe einzelner Anbieter, Unternehmen oder Plattformen sein kann.
Ein unreguliertes Metaverse birgt gesellschaftliche Risiken.
Avatare können allgemein und vergleichbar klassifiziert werden.
Die Gestalt aller Avatare lässt sich morphologisch beschreiben.
Aus dieser Sicht betrachtet, ist die Initiative des Metaverse Standards Forums zur Verbesserung der Interoperabilität begrüßenswert. Allerdings muss auch hier die gesellschaftliche Dimension betrachtet werden. Ersetzt man ein einzelnes Unternehmen nur durch mehrere, muss daraus nicht zwangsläufig Demokratie erwachsen. Anstelle einer Diktatur hätte man vielleicht „nur“ eine Oligarchie. In einem Spiel unterwirft man sich mehr oder minder freiwillig den Spielregeln. Sollen jedoch Teile des gesellschaftlichen Lebens, gleich ob Schule, Ausbildung, Studium, Arbeit oder Freizeit, in das Metaverse verlagert werden, so ist das nicht mehr akzeptabel. Das gilt insbesondere dann, wenn die Nutzung des Metaverse nicht freiwillig geschieht, sondern zum Beispiel Teil der Arbeit oder des Studiums ist. Die Bevölkerung einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft sollte auch in der virtuellen Gesellschaft nicht in ihren Grundrechten eingeschränkt sein.
Handlungsempfehlungen
  • Morphologische Beschreibung von Avataren
    Um verschieden Avatare allgemeingültig zu beschreiben, kann eine Charakteristik anhand morphologischer Merkmale vorgenommen werden.
  • Klassifizierung von Avataren
    Für eine Beschreibung eines Avatars in einem bestimmten Intraverse sollten vergleichbare Klassifizierungen verwendet werden.
  • Wissenschaftliche Bewertung und politische Begleitung des Metaverse
    Der Aufbau eines Metaverse allein nach den Gesetzen des Marktes birgt freiheitlich-demokratische Risiken. Diese Risiken müssen wissenschaftlich untersucht und in politische Entscheidungen umgesetzt werden.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Fußnoten
1
In Abgrenzung zum Metaverse: Der durch den Avatar zugängliche virtuelle Raum eines Anbieters.
 
2
Sanskrit. Mahabharata = Große Geschichte der Bharatas; gewaltiges indisches Epos (in der engl. Übersetzung 22 Bände).
 
3
Wobei hier mit Habitat ausdrücklich auch das gleichnamige Videospiel von Chip Morningstar und Randall Farmer gemeint ist.
 
4
Das Videospiel „Ultima IV: Quest of the Avatar“ führt den Avatar allerdings schon seit 1985 im Namen.
 
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Stephenson, N. (2021). Snow crash: Roman. Frankfurt: FISCHER Tor. Stephenson, N. (2021). Snow crash: Roman. Frankfurt: FISCHER Tor.
3.
Zurück zum Zitat Gautier, T. (2011). Avatar (1. Aufl.). Berlin: Matthes & Seitz. Folgt der Erstausgabe von 1851 Gautier, T. (2011). Avatar (1. Aufl.). Berlin: Matthes & Seitz. Folgt der Erstausgabe von 1851
4.
Zurück zum Zitat Lanier, J. (2018). Anbruch einer neuen Zeit: wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert (1. Aufl.). Hamburg: Hoffmann und Campe. Lanier, J. (2018). Anbruch einer neuen Zeit: wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert (1. Aufl.). Hamburg: Hoffmann und Campe.
5.
Zurück zum Zitat Card, S. K., Moran, T. P., & Newell, A. (1983). The psychology of human-computer interaction. Hillsdale: Lawrence Erlbaum. Card, S. K., Moran, T. P., & Newell, A. (1983). The psychology of human-computer interaction. Hillsdale: Lawrence Erlbaum.
6.
Zurück zum Zitat Cameron, J. Avatar, (17. Dezember 2009). Cameron, J. Avatar, (17. Dezember 2009).
8.
Zurück zum Zitat Beil, B., Hensel, T., & Rauscher, A. (Hrsg.). (2018). Game Studies. Wiesbaden: Springer VS. Beil, B., Hensel, T., & Rauscher, A. (Hrsg.). (2018). Game Studies. Wiesbaden: Springer VS.
10.
Zurück zum Zitat Gibson, W. (1994). Neuromancer (1. Aufl.). New York: Ace Books. Gibson, W. (1994). Neuromancer (1. Aufl.). New York: Ace Books.
Metadaten
Titel
Digitale Avatare = humanoide Phantome?
verfasst von
Prof. Dr.-Ing. Armin Grasnick
Publikationsdatum
17.10.2022
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
Wirtschaftsinformatik & Management / Ausgabe 6/2022
Print ISSN: 1867-5905
Elektronische ISSN: 1867-5913
DOI
https://doi.org/10.1365/s35764-022-00431-5

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